Die dunkle Seite des Weiß
habe Mama und Papa nichts davon gesagt. Sie sollen sich nicht unnötig sorgen. Es wäre müßig, denn umstimmen lassen würde ich mich nicht. Nicht einmal von Luise.
Der Doktor hat gelächelt heute früh. Er hat mir das Medikament gezeigt, weil ich ihn darum gebeten habe. Eine Spritze voll golden funkelnder Hoffnung. Und er hat mich gefragt, ob ich Angst habe. Nein, ich habe keine Angst. Nicht mehr. Wenn nur endlich irgendetwas geschieht.
Der Husten wird schlimmer mit jedem Tag. Aber morgen, morgen endlich geht es los. In aller Frühe, hat er gesagt. Es ist eine verzweifelte Freude in mir.
Das Saxophon jammerte eine alterierte Scala, während das Barpiano lässige Kontrapunkte in die Melodie hineintupfte, als wäre Jazzimprovisation das Einfachste der Welt. Ich klappte das Tagebuch zu und starrte in den dunklen Schimmer des Whiskeys, der vor mir auf der Theke stand. War es der dritte? Oder doch schon der fünfte? Ich war nicht sicher und das Abzählen an den Fingern gestaltete sich zunehmend schwierig.
Es war noch früh am Abend und der »Waschsalon«, meine Lieblings-Jazzkneipe in einer Seitenstraße nahe des Görlitzer Bahnhofs, um diese Zeit fast menschenleer. In Kreuzberg ging niemand so früh aus. Schon gar nicht zum Jazz hören. Aber ich war heute ohnehin nicht wegen der Musik hier.
»Noch einen«, murmelte ich Patrick zu und schüttete den Rest des Whiskeys in einem Zug hinunter.
Der Barmann musterte mich prüfend. »Sicher? Du bist das doch gar nicht gewohnt. Nicht, dass wir dann nachher –«
»Noch einen, verdammt!«
Patrick zuckte mit den Schultern und schob mir dann einen weiteren Whiskey über die blanke Thekenplatte. »Du hättest besser deine Klarinette mitbringen sollen, anstatt dich hier sinnlos zu betrinken.«
Ich spürte den vorwurfsvollen Blick auf mir und seufzte. »Ich trinke nicht sinnlos. Im Gegenteil. Das hier ist das Erste wirklich Sinnvolle, was ich seit Tagen tue.«
Warum nur war ich in die Akademie zurückgekehrt? Warum hatte ich mich auf diesen Wahnsinn eingelassen? Ich unterdrückte ein kehliges Lachen. Ach ja, richtig. Ich wollte diese Leichenfunde klären, diesen komischen Fall von damals, der mir keine Ruhe ließ. Ich hatte meinen Frieden finden wollen.
»Das ist dir in Gesellschaft deiner Exfrau wirklich ausnehmend gut gelungen«, brummte ich und prostete meinem Bild zu, das sich zusammengekauert im Spiegel hinter der Bar abbildete. Es lächelte nicht zurück. Warum sollte es auch. Der Anblick war einfach zu erbärmlich.
Und dann dieses Tagebuch. Clara von Rieckhofen, diese junge Frau, deren Leben und Tod noch viel geheimnisvoller war, als ich jemals vermutet hätte. Ein Raum, in dem die Zeit nicht verging – das hatte auch ich bisher nicht erlebt. Diese Räume waren selten und entstanden nur unter extremen Bedingungen. Vielleicht hatte ich deshalb so lange gebraucht, um zu verstehen, womit wir es zu tun hatten. Und das machte es nicht gerade einfacher herauszufinden, wann Clara gestorben war. Doch nicht nur das. Irgendjemandem musste etwas an Clara gelegen haben, denn wie sonst ließe sich diese feierliche Aufbahrung im Keller erklären? Clara war nicht einfach dort abgelegt worden. Jemand hatte sie mit Blumen umgeben, hatte Unmengen von Kerzen angezündet und ihr die anatomischen Präparate, die sie anscheinend sehr geliebt hatte, mitgegeben.
Ich blätterte im Tagebuch herum. Die Spur des Doktor Ewald verlor sich in den Kriegswirren, soviel wussten wir. Aber wer war eigentlich dieser Viktor gewesen? Und was war mit Luise? Die Beiden schienen am ehesten in Frage zu kommen, denn sie hatten Clara von Rieckhofen nahegestanden. Was war mit ihnen geschehen?
Fragen, die ich ohne erneutes Wühlen im Archiv wohl nicht würde beantworten können. Und nicht ohne Katherine.
Ich sah Katherines schmales, blasses Gesicht vor mir, sah ihre traurigen Augen, in denen doch noch immer ein leichter Schimmer von Hoffnung glänzte. Und das Bild wurde verdrängt von Mirellas Lächeln, von der Flut dunkelbrauner Locken, die mir über die Wange strich, von dem fast unmerklichen Duft ihres Parfums, das sie in all den Jahren nie gewechselt hatte. Der gleiche Duft wie früher.
»Cheers, darling«, murmelte ich und schüttete den Whiskey hinunter.
Das Brennen des Alkohols war nichts gegen den Schmerz, den der Gedanke an Mirella in mir auslöste. Es wütete und tobte in meinem Herzen, als hätte sich ein heimtückischer Sturm dort eingenistet und beschlossen, keine Faser an Ort und Stelle zu
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