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Die dunkle Seite des Weiß

Die dunkle Seite des Weiß

Titel: Die dunkle Seite des Weiß Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Yalda Lewin
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lassen.
    Es konnte einfach nicht wahr sein, dass sie heiraten wollte. Nicht diesen Typen. Keinen Typen. Außer mir! Hatte sie wirklich alles vergessen, was uns verbunden hatte? War die ganze Zeit, immerhin fast zwölf Jahre, so vollkommen unwichtig, dass sie einfach einen Anderen heiraten konnte? Ein neues Leben beginnen konnte, irgendwo in Kuba, und mich hier zurücklassen, als hätte es uns beide niemals gegeben?
    »Natürlich kann sie das«, lallte ich meinem Spiegelbild entgegen. »Sie denkt ja auch immer noch, dass ich was mit den Nutten zu tun hatte. Lächerlich …«
    »Und, hat sie recht?«, erklang in diesem Moment eine vertraute Stimme neben mir.
    Ich drehte mich mühsam zur Seite und musste mich an der Theke festklammern, um vor Überraschung nicht vom Barhocker zu kippen. Der Heilpraktiker.
    »Retter in der Not!« Ich lachte heiser und drehte mich wieder zurück. »Nein, hat sie nicht. Keine Nutten für Jakob Roth, nein nein …«
    »Sie sind vollkommen betrunken. Soll ich Sie nach Hause bringen?«
    »Quatsch. Bin nüchtern. Völlig nüchtern. Ging mir nie besser.«
    »Das bezweifle ich«, sagte Oliver Menke ruhig.
    »Was machst‘n du hier?«, fragte ich und brauchte drei Anläufe, um die Worte korrekt auszusprechen. Dass ich den Heilpraktiker duzte, obwohl wir uns kaum kannten, erschien mir in diesem Moment in keiner Weise seltsam. Dass jemand wie er eine völlig versiffte Jazzkneipe in einem Kreuzberger Hinterhof aufsuchte, umso mehr.
    »Lassen Sie uns gehen«, sagte Menke, fasste mich am Arm und bugsierte mich vorsichtig vom Barhocker hinunter.
    Die Jazzcombo auf der Bühne war inzwischen um eine Posaune und ein Xylophon angewachsen und jagte feine Gespinste aus Dominantseptakkorden durch den Raum. Ich konnte spüren, wie der Whiskey in meinem Magen schwappte und sich mit dem Gin vermischte, mit dem ich den Abend in der Kneipe begonnen hatte. Schwankend schlüpfte ich in meinen Mantel.
    »Moment noch!«
    Oliver Menke wartete, während ich das Tagebuch einsteckte und mit zitternden Fingern einige Scheine auf den Tresen warf. Beim Hinauswanken nahm ich einem Zeitungsverkäufer, der gerade die Bar betrat, noch eine Morgenausgabe ab und drückte ihm, schon fast aus der Tür, einen weiteren Schein in die Hand.
    »Wertvolle Zeitung«, lallte ich und lachte Menke an. »Informationen. Immer wertvoll. ‚Sie sucht ihn‘ und so.«
    »Ich stecke die Zeitung ein, dann können Sie sie morgen früh gleich lesen«, antwortete er gelassen, nahm mir das Blatt ab und verstaute es in der Umhängetasche, die er über der Schulter trug. Dann hakte er sich fest bei mir ein. »Nur damit Sie nicht fallen. Sicher ist sicher.«
    Ich starrte in die Kronen der Bäume, die die Straße säumten wie stille Soldaten, während wir über das unebene Kopfsteinpflaster Richtung Ufer wankten. Die alten Gasleuchten der Straßenlaternen wie Glühwürmchen vor meinen Augen, mein Atem als Dampf in der Luft. Und mein Herz ein tanzender Schwarm Mücken.
    »Sie sind schwerer, als Sie aussehen«, stöhnte Oliver Menke, als er mich mühevoll in den vierten Stock hinauf bugsierte.
    »Danke fürs Kompliment«, lallte ich und unterdrückte ein Aufstoßen. Der Whiskey hatte sich inzwischen vollständig mit dem Gin vermischt und beide machten ihrem Namen als Feuerwasser nun alle Ehre in meiner Speiseröhre. Die ganze Welt schien sich um mich zu drehen und ich wusste schon jetzt, dass ich mich am nächsten Morgen entsetzlich fühlen würde. Aber noch entsetzlicher würde es sein, wieder nüchtern an Mirella denken zu müssen. Schon bei der Aussicht darauf wurde mir übel. Mirella und Ernesto würden heiraten. Fortgehen. Und ich würde nie im Leben genug trinken können, um das zu vergessen.
    Wir kamen vor meiner Haustür an und ich kramte den Schlüssel aus meiner Hosentasche.
    »Den Rest schaff ich alleine«, brabbelte ich und taumelte im nächsten Moment mit solchem Schwung zurück, dass ich fast das Gleichgewicht verloren hätte und über das Treppengeländer gestürzt wäre, hätte mich Oliver Menke nicht gepackt und festgehalten.
    »Nein, schaffen Sie nicht«, kommentierte er trocken.
    Er fasste mich an der Schulter und schob mich zur Haustür. Dann nahm er mir den Schlüssel aus der Hand, schloss auf und bugsierte mich in die Wohnung. Mit einem leisen Klacken fiel die Tür hinter uns zu.
    Menke seufzte erleichtert. »Also, wenn Sie jetzt nicht zufällig auf die Idee kommen, aus dem Fenster zu stürzen, dürften wir das Schwerste hinter uns

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