Die dunkle Seite des Weiß
begleitet. Und nie konnte Mirella sie aufhalten. Es war keine Epilepsie. Keine Schizophrenie. Es war etwas Anderes, etwas Eigenes.
Ich hatte mich schon oft gefragt, ob dieses Phänomen etwas mit Mirellas Sonderbegabung zu tun hatte. Niemand bekommt eine Begabung geschenkt, ohne einen Preis dafür zahlen zu müssen. Mirella konnte Illusionen erzeugen, denen niemand sich zu entziehen vermochte, und in Bilderwelten eintauchen, die sonst niemand sah. Doch der Preis war hoch.
Am beunruhigendsten war jedoch die mit den Anfällen einhergehende Wesensveränderung. Die Krankheit machte aus Mirella, die ohnehin schon ein durch und durch analytischer Mensch war, ein unterkühltes Abziehbild ihrer selbst. Sie hatte mir vor vielen Jahren erzählt, dass es sich anfühlte, als würde sich eine eisige Folie über die Seele legen. Bis dann auch dieses letzte Gefühl darunter erstickte.
»Danke«, murmelte Mirella, senkte kurz den Blick, und ich merkte, wie sie innerlich aufzuatmen schien. Dann stand sie auf. »Im Schrank im Flur findest du Bettzeug, wenn du welches brauchst.«
»Ich nehme einfach die Decke hier auf dem Sofa«, erwiderte ich. Dann räusperte ich mich. »Allerdings macht es wenig Sinn, wenn ich hier im Wohnzimmer bleibe, oder?«
Mirella verzog die Mundwinkel. »Wird das eine dumme Anmache? Schlechter Zeitpunkt, Jakob, ganz schlechter Zeitpunkt.«
Ich seufzte leise. »Ich meinte damit nicht, dass ich zu dir ins Bett krabbeln will. Aber ich sollte dich im Blick behalten, denkst du nicht?« Ich stand auf und streckte mich. »Früher hattest du dieses unbequeme Monster von Sessel. Der, bei dem einem immer die Federn in den Rücken gedrückt haben. Gibt‘s den noch?«
Mirella nickte. »Ja. Er steht bei mir im Schlafzimmer.«
»Den nehme ich«, sagte ich schnell.
»Trotz der Sprungfedern?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Ich werde es überleben. Hauptsache, ich habe dich im Blick.«
Mirella musterte mich prüfend. »Aber keine krummen Dinger. Du bleibst in dem Sessel. Klar?«
Ich hob eine Hand zum Schwur. »Klar.« Dann lächelte ich Mirella ermutigend zu. »Du wirst sehen, wir kriegen das alles in den Griff. Hat ja letztes Mal auch geklappt.«
Mirella lächelte schief zurück, doch ich sah Zweifel in ihren Augen. Und Angst. »Ja. Das haben wir.« In der Tür drehte sie sich noch einmal um. »Jakob?«
»Ja?«
»Warum machst du das für mich?«
Einen Augenblick suchte ich nach einer Antwort. Die Frage war mehr als berechtigt, nach allem, was passiert war. Mirella hatte mich in einer der schwärzesten Phasen meines Lebens sitzenlassen. Warum also tat ich das für sie? Einen Moment war ich versucht, ihr die Wahrheit zu sagen. Doch ich ließ es bleiben. Es war nicht der richtige Zeitpunkt. Noch immer nicht. Und wer wusste schon, ob der richtige Zeitpunkt jemals kommen würde.
Also zuckte ich mit den Schultern, während ich mir die Decke vom Sofa schnappte. »Ich glaube, ich bin einfach ein netter Kerl. Deshalb.«
Mirella lachte auf. »Ja, das bist du. Zu nett.«
*
Ich weiß nicht, wie lange ich in Mirellas altem Sessel saß und über sie wachte, während sie in einen unruhigen Schlaf fiel. Die Dämmerung schlich langsam über den Horizont und tauchte den Himmel bereits in flammendes Rot, als ihre Atemzüge schließlich ruhiger und regelmäßiger wurden. Ich betrachtete ihr Gesicht, das im Licht des aufkommenden Morgens filigran und weich wirkte, umrahmt von diesen dunkelbraunen Locken, die ich früher so gern durch meine Finger hatte fließen lassen. Ein leichtes Ziehen im Herz erinnerte mich daran, dass diese Zeit vorbei war. Dass vielleicht etwas Neues auf uns wartete. Aber zurück konnten wir nicht. Nicht, nach allem, was geschehen war.
Ich hätte müde sein müssen, doch ich fühlte keine Erschöpfung. Es kam mir vor, als hätte ich noch Äonen von Jahren einfach nur hier sitzen können, als stiller Wächter über Mirellas Träume.
Als es schließlich hell wurde, erhob ich mich leise, ging zum Fenster und schob vorsichtig die Vorhänge zu, bis nur noch ein kleiner Spalt Morgenlicht ins Zimmer ließ. Dann trat ich zu Mirella ans Bett und ging neben ihr in die Knie.
»Schlaf«, murmelte ich, und strich behutsam mit der Fingerspitze über die feine Linie ihres Wangenknochens. »Schlaf.«
Mirella murmelte etwas und schmiegte ihre Wange in meine Handfläche. Doch sie erwachte nicht.
Ich lächelte matt und versuchte, den schneidenden Schmerz in meinem Herzen zu ignorieren. Mirellas Schlaf war ruhig und
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