Die dunkle Seite des Weiß
ganze Zeit über versucht, stark zu wirken. Doch ich hatte die Verletzung in ihren Augen gesehen, wahrgenommen, was sie mir gegenüber aussandte. Da war Wut, Traurigkeit, ein stetes Schwanken zwischen Distanz und Anziehung. Und mir fiel einfach nicht ein, wie ich diesen Fehler wiedergutmachen konnte. Wahrscheinlich gab es nichts, was ich noch tun konnte. Außer zu hoffen, dass sich die Situation irgendwann wieder entspannte.
»Hier, die Übersetzung ist da«, sagte ich, während ich die Datei öffnete. Mein Blick huschte über den Text. Es war nicht viel und das Meiste hatte Katherine schon vorhin gesagt. Doch einem Detail konnte wir nachgehen.
»KehPharma also«, sagte Mirella, die dicht neben mich gerückt war und ebenfalls den Text durchsah. »Wer oder was genau ist das?«
Ich runzelte die Stirn. Die Minsker Klinik hatte dem Pharmaunternehmen eine Zusammenarbeit angeboten. Ernesto schien nur die Schnittstelle gewesen zu sein – wenn er es denn wirklich war und nicht, wie er behauptete, von all dem nichts wusste.
Ich schüttelte den Kopf. »Ehrlich gesagt, habe ich noch nie von denen gehört.«
»Na, das lässt sich ändern«, sagte Mirella, trank einen Schluck Wein, erhob sich und holte ihr Laptop.
Es dauerte keine 10 Sekunden, das Unternehmen im Internet ausfindig zu machen.
KehPharma – Tradition trifft Innovation
»Interessant«, sagte Mirella, während wir die Unternehmensseiten durchstöberten. »KehPharmas Firmensitz ist in Berlin. Hast du wirklich noch nie von denen gehört?«
Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber vielleicht Oliver.«
Mirella grinste mich von der Seite an. »Richtig, du hast ja jetzt einen Freund. Wird eine Weile dauern, bis ich mich daran gewöhnt habe.«
»Nicht so einen Freund«, antwortete ich betont gelassen. »Du weißt, ich bin euch Frauen erschreckend ergeben.«
Ein Lächeln zuckte um ihre Mundwinkel, doch sie sagte nichts. Dann wandten wir uns wieder der Firmenwebsite zu.
»Die haben einen Schwerpunkt im Bereich der Schmerzmittelforschung«, sagte ich, während ich die Unternehmenshistorie las. »Schmerzmittel aller Art. Komisch, dass ich nichts von denen kenne.«
Mirella musterte mich von der Seite, und ich war mir nicht sicher, wie ich ihren Blick deuten sollte. »Sind die Kopfschmerzen niemals besser geworden?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Manchmal sind sie wochenlang weg, manchmal könnte ich aus dem Fenster springen, weil ich denke, im nächsten Augenblick den Verstand zu verlieren. Also – nein, besser geworden ist es nicht wirklich. Seit zwei Jahren bin ich irgendwie – lädiert. Aber ich habe große Hoffnung in Olivers Künste. Wer weiß, vielleicht macht er aus mir einen normalen Menschen.«
»Das wäre schade, finde ich«, erwiderte Mirella. »Als normaler Mensch kannst du nur verlieren. Oder?«
Einige Sekunden lang sahen wir uns an, dann lächelte ich. »In Ordnung, kein normaler Mensch. Nur ein wie gewohnt Gestörter ohne Kopfschmerzattacken.«
Mirella lächelte zurück. »Deal.«
Dann klappte sie das Laptop zu. »Was auch immer KehPharma mit dem Ganzen zu tun hat, auf der Website finden wir dazu nichts. Die sind nicht in der Tuberkulose-Forschung tätig.«
»Zumindest nicht offiziell«, warf ich ein. »Wer weiß, was sich hinter den Kulissen abspielt. Wir sollten dem nachgehen.«
Mirella nickte gähnend. »Aber nicht mehr heute Nacht. Es wird bald hell.« Sie strich mir flüchtig über den Arm. »Ich muss jetzt wirklich schlafen, Jakob. Aber würdest du mir einen Gefallen tun?«
Ich blickte sie an. »Fast jeden.«
»Kannst du hier bleiben? Ich meine – hier im Wohnzimmer, auf der Couch?«
Ich sah, wie sie nervös schluckte. »Zumindest bis ich eingeschlafen bin? Ich würde verstehen, wenn du ablehnst, wirklich. Aber ich möchte gerade nicht alleine sein. Falls wieder …« Sie brach mitten im Satz ab.
»Falls es aus dem Ruder läuft, wolltest du sagen?« Ich nickte. »In Ordnung. Ich passe auf dich auf. Versprochen.«
Ich konnte mir nur ansatzweise vorstellen, wie schlimm es für Mirella sein musste, dass die Anfälle zurück waren. Dass sie dieser mysteriösen Erkrankung, die sich über viele Jahre erfolgreich hatte in Schach halten lassen, nun erneut gegenübertreten musste. Niemand konnte sich erklären, woher die Anfälle kamen, und auch Mirella selbst erinnerte sich nicht genau, wann es begonnen hatte. In der Kindheit, in einem Herbst, mit dem Geruch von Laub in der Nase. Immer wurden die Attacken von genau diesem Geruch
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