Die dunkle Seite des Weiß
nicht an. Nachher würde ich sie abholen und wir würden uns diese Pharmafirma ansehen. Bis dahin gab es allerdings noch etwas Anderes für mich zu tun.
Ich trank hastig den Kaffee aus und stand auf. Es war kurz nach 10 Uhr. Mit etwas Glück würde ich Oliver in seiner Praxis erreichen. Er schuldete mir noch einen Vortrag über chinesische Lilienwurzeln.
*
»Lilienwurzeln. Chinesisch Bai he.«
Oliver hielt mir etwas unter die Nase, dass auf den ersten Blick wie getrocknete Sägespäne aussah. Niemals hätte ich in diesen unscheinbaren Schnitzen ein so mächtiges Heilmittel vermutet.
»Sieht unspektakulär aus.« Ich nahm die Wurzel in die Hand. »Ist das Zeug giftig?«
Oliver lachte. »Nein, keine Sorge. Du kannst dir einen Tee daraus kochen, es ist vollkommen harmlos. Was hast du denn erwartet?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Irgendetwas Beeindruckendes. Ich meine, wenn etwas die Kraft hat, Tuberkulose zu heilen, dann –«
»Moment, Moment«, bremste Oliver mich ab. »Mit dieser Pflanze kann TBC behandelt werden. Und in den chinesischen Klassikern heißt es, dass sie die Erkrankung auch heilen kann.« Er verzog den Mundwinkel. »Aus eigener Erfahrung kann ich da nichts beisteuern, aber ich bezweifle, dass die Wurzel genügt.«
»Für Pharmafirmen aber trotzdem nicht uninteressant, oder?« Ich ließ die getrockneten Späne vorsichtig auf Olivers Schreibtisch rieseln. »Da ist doch eine Unmenge an Geld zu machen, wenn man das richtige Mittel findet.«
»Ja, wenn«, erwiderte Oliver, während er einen neuen blütenweißen Bezug auf die Behandlungsliege spannte. »Nicht gerade ein Kinderspiel. Über multiresistente Keime weißt du ja Bescheid. Etliche Antibiotika versagen inzwischen, weil das Tuberkulosebakterium resistent geworden ist. Und damit rollt früher oder später ein gewaltiges Problem auf uns zu. Ich denke, es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir hier wieder die gleichen Probleme mit der Tuberkulose haben wie vor 100 Jahren.«
»Und wenn sich jemand auf die Traditionen besonnen hat?« Ich starrte Oliver gespannt an. »Für wie wahrscheinlich hältst du es, dass jemand versucht, aus den Lilienwurzeln ein Medikament zu entwickeln?«
»Versucht vielleicht, aber wahrscheinlich mit wenig Erfolg.« Oliver stemmte die Hände in die Seiten. »Hey, wir reden hier immerhin von Tuberkulose! Das ist nicht irgendeine kleine Erkältung, die man mal eben mit einem Tee in den Griff kriegt.« Er schüttelte den Kopf. »Wer Bai He für ein geeignetes Mittel gegen resistente Keime hält, muss wahnsinnig sein. Meine Meinung.«
»Vielleicht funktioniert das nicht mit der heutigen Form«, sagte ich. »Aber was ist mit der alten Variante dieser Lilie, die längst ausgestorben ist.«
Oliver hob die Brauen. »Und wenn schon. Dir ist klar, was ausgestorben bedeutet? Aus-ge-storben?« Er schüttelte den Kopf. »Unwahrscheinlich, dass irgendjemand diese alte Lilienform noch zufällig im Wintergarten auftut. Und dass der Wintergarten dann groß genug ist für eine Massenproduktion.«
»Nicht im Wintergarten«, antwortete ich. »Aber wir wissen von mindestens einem Keller, in dem etliche der Blumen überlebt haben. Den Kellerraum in den Beelitzer Heilstätten. Vielleicht versucht jemand, die ursprünglichen Formen wieder zurückzukreuzen? Was bräuchte man dafür? Ein Labor, genügend finanzielle Mittel und Leute, die sich mit so etwas auskennen.«
Oliver verengte die Augen zu schmalen Schlitzen. »Also im Prinzip jedes Unternehmen, das auch sonst in der naturwissenschaftlichen Forschung tätig ist.«
Ich grinste ihn an. »Und das bringt uns wieder direkt zu KehPharma. Da wollte ich sowieso mal hin.«
Kapitel 14
Es dauerte einen Moment, bis sich nach meinem Klingeln in Mirellas Wohnung etwas tat. Ich hörte, wie sie durch den Flur ging und direkt hinter der Tür stehen blieb.
»Wer ist da?«
Sie klang erschöpft. Und dennoch spürte ich ihre Gegenwart durch das Holz der Tür, als würde sie direkt neben mir stehen.
»Ich bin‘s. Jakob.«
Das Entriegeln zweier Schlösser und eine Kette, die zurückgeschoben wurde.
»Seit wann verbarrikadierst du dich zuhause?«, fragte ich verwundert, als die Tür schließlich mit einem feinen Knarren aufschwang und ich Mirella im dämmrigen Licht des Flurs stehen sah.
»Die Welt ist schlecht, oder? Deshalb.« Sie drehte sich um und ging durch den Flur zurück zur Küche.
Ich schloss die Tür hinter mir und folgte Mirella, auch wenn sie mich nicht hereingebeten
Weitere Kostenlose Bücher