Die dunkle Seite des Weiß
die düsteren Ängste für den Moment auf dem Rückzug. Zeit für mich zu gehen.
*
Ich schlief wenig an diesem Morgen und die kurze Erholung war getrübt von wirren Träumen. Nach kaum zwei Stunden rappelte ich mich auf und beschloss, dass es keinen Sinn hatte, mich weiter im Bett herumzuwälzen. Ich war von Mirellas Wohnung zu mir nach Hause gelaufen, durch die erwachenden Berliner Straßen, doch den Gedanken an Mirella hatte ich mitgenommen. Und die Sorge um sie.
Manche mögen es albern finden, dass ich mir nach allem, was geschehen war, Gedanken um meine Exfrau machte. Aber genauso war es. Dass Mirellas Attacken sich wieder in den Vordergrund drängten, war besorgniserregend. Wenn sie es nicht in den Griff bekam, war eine weitere Arbeit für die Akademie unmöglich. Krankheiten machten sich nicht besonders gut im Reigen der Hoch- und Sonderbegabten. Ich hatte nicht ohne Grund meine Kopfschmerzen stets für mich behalten.
Mirella hatte mir bereitwillig erzählt, dass die Medikamente versagten. Vertraute sie mir also? Zumindest in diesem Bereich ihres Lebens? Vielleicht. Aber da ging es ja auch nicht darum, welche anderen Frauen ich vögelte … Oder ob ich vermeintlich Teil eines osteuropäischen Menschenhändler-Ringes war …
Ich stellte die Kaffeemaschine an, duschte, um einen klaren Kopf zu bekommen, und schlüpfte in eine frische Jeans und mein Ramones-Lieblingsshirt. Mit einer Tasse dampfenden Kaffees setzte ich mich dann an den Küchentisch und ließ den Blick nach draußen wandern, über den Hof, wo er an die gegenüberliegende Brandmauer prallte. Die letzte Nacht hatte so viele neue Informationen und Erkenntnisse gebracht, dass ich sie kaum alle sortiert bekam.
Wir mussten die Pharmafirma unter die Lupe nehmen. Und herausfinden, was genau Ernesto mit der Klinik in Minsk zu tun hatte. Nicht zuletzt beschäftigte mich noch immer das Rätsel um Clara von Rieckhofens Tod. Ein Raum, in dem die Zeit stillstand, war merkwürdig genug – für einen Mitarbeiter der Abteilung zum Lösen paranormaler Kriminalfälle aber nicht völlig abseits allen Möglichen. Ich hatte mir in all den Jahren abgewöhnt, irgendetwas für unmöglich zu halten. Es gab nichts, was es nicht gab.
Dennoch wollte ich all das nicht einfach so auf sich beruhen lassen. Mich interessierte, woran Clara gestorben war. Und warum ihre Tuberkulose vorher ausheilte. Denn genau das machte die eigentliche Faszination dieses Falles für mich aus. Eine ausgeheilte TBC bedeutete einen enormen Fortschritt in der Medizin der damaligen Zeit. Und wurde heute im Angesicht multiresistenter Erreger, die auf kein Antibiotikum mehr reagierten, wieder brandaktuell. Warum nur fand ich in den Unterlagen nichts Genaueres zu Ewalds Behandlungskonzept? Mit Sicherheit wäre die Behandlung, so sie denn damals Erfolg gehabt hatte, für heutige Pharmafirmen hochinteressant.
Ich nippte an meinem Kaffee, der wie ein bitterer Strom mein Nervensystem aufweckte, und plötzlich stockte mir der Atem. Was, wenn auch jemand Anderes von den damaligen Versuchen des Doktor Ewald wusste? Und nun zu rekonstruieren versuchte, was damals in den Beelitzer Heilstätten vor sich gegangen war? Und das nicht mittels Petrischalen oder Tierversuchen sondern an lebenden Menschen? Dass wir in den Archiven nichts zum Behandlungskonzept fanden, hieß nicht, dass nicht jemand Anderes es bereits getan hatte.
Ein kalter Schauer lief mir über die Haut. Es passte ins Bild. Die jungen Frauen aus Weißrussland und der Ukraine, die man in Berlin gefunden hatte. Die Vermutung, dass KehPharma mit der Sache zu tun hatte. Hatte das Unternehmen tatsächlich mit der Minsker Klinik kooperiert? Wenn ja, wie lange schon?
Mir kam noch ein ungeheuerlicher Gedanke: Was, wenn das schon seit vielen Jahren so ging? Und wir nur keine anderen Leichen gefunden hatten, weil diese besser versteckt worden waren? Der Fund der drei Frauen war genau betrachtet reiner Zufall gewesen. Eine riesige Baugrube, die eigentlich hätte ausbetoniert werden sollen. Dass man die Frauen gesehen hatte, bevor sich Unmengen von Beton für immer über sie ergossen, war pures Glück gewesen.
Jemand hatte gewollt, dass die Frauen verschwinden. Und wer konnte mehr Interesse daran haben, als die Mitarbeiter eines Forschungsprojektes, bei dem irgendetwas furchtbar schief gelaufen war?
Kurz überlegte ich, Mirella anzurufen, doch dann ließ ich es sein. Sie hatte Schlaf bitter nötig und auf eine oder zwei Stunden kam es jetzt wahrscheinlich
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