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Die dunkle Seite

Die dunkle Seite

Titel: Die dunkle Seite Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Frank Schätzing
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erholt, um ihn dann unversehens mit drei Bauchschüssen zu erledigen?«
    Vera blinzelte verwirrt.

    »Er ist an Bauchschüssen gestorben?«
    »Üskers Verletzungen waren zwar schrecklich, aber er hätte die Folter überlebt. Der Mörder hat die Sache abgekürzt, allerdings auf recht originelle Art. Er hätte Üsker ja auch mit einer Kugel in den Kopf exekutieren können. Warum schießt er ihn in den Bauch?«
    »Er hat eben geschossen. Irgendwohin.«
    »Jemand, der die Klaviatur der Folter offenbar perfekt beherrscht, schießt blindwütig irgendwohin? Kommt es Ihnen nicht auch so vor, als wären da eher zwei Täter am Werk gewesen?«
    Zwei Täter ...
    »Zwei ganz unterschiedliche Verhaltensweisen«, sagte Menemenci. »Wie von zwei verschiedenen Personen. Einer rächt sich mit akribisch kunstvollen Quälereien, der andere zieht es vor, irgendwohin zu schießen.«
    Nein, dachte Vera, das macht keinen Sinn.
    »Oder aber«, fuhr Menemenci fort, »es gibt noch eine Möglichkeit.
    Es war doch nur einer, und tatsächlich hat er sich gerächt. Die Bauchschüsse. Sie müssen sich auf irgend etwas bezogen haben, etwas aus der Vergangenheit. Sie sind gewissermaßen ein Zitat.«
    Sie haben Marmann im Sand liegen lassen und sind losgefahren.
    Der Flieger hatte ihn erwischt.
    Hatte Marmann mit Bauchschüssen in der Wüste gelegen?
    »Aber wozu dann die Folter?« fragte sie.
    Menemenci sah sie an. Sein Blick war kalt und analytisch.
    »Um an Informationen zu gelangen. Üsker ist gefoltert worden, weil es nüchtern betrachtet das Vernünftigste war. Er sollte reden. Aber es stellte sich heraus, daß er nichts wußte, sonst hätte er die schreckliche Prozedur sicher nicht so lange über sich ergehen lassen. Erst als sein Peiniger sicher sein konnte, daß von Üsker nichts zu erfahren war, griff er zur Waffe und vollendete sein Werk. Er schaltete seinen Verstand aus und ließ nur seinen Haß sprechen.«
    Vera lauschte gebannt.
    »Wenn wir wissen, wofür die Bauchschüsse stehen, haben wir den Mörder«, schloß Menemenci. »So einfach ist das.«
    »Warum erzählen Sie mir das alles?«
    Menemenci wuchtete sich aus dem Sessel.
    »Damit Sie nachdenken. Augenblicklich wollen Sie mir nicht helfen. Gut, ich kann Sie nicht zwingen. Aber ich kann Sie wenigstens warnen.«
    »Wovor?«
    »Vor Ihrer eigenen Dummheit.«
    Er betrachtete sie, als wolle er noch etwas Bedeutungsvolles hinzufügen. Dann zuckte er die Achseln.
    »Überlegen Sie es sich. Falls Sie mich anrufen wollen, Sie haben meine Karte. Danke für Ihre Zeit.«

15.45 Uhr. Red Lion
    Wenige Stunden, nachdem die Detektivin gegangen war, saß Solwegyn im Erdgeschoß an der Bar vor einer fast leeren Flasche 1954er Old Tawny Port. Nach mehreren Gläsern hatte der Alkohol seine Geschmacksnerven soweit betäubt, daß er ebensogut etwas Billigeres hätte trinken können. Er wußte, daß er den alten Jahrgang verschwendete, aber es war genug davon da. Er hatte die Restbestände aufgekauft.
    Er hatte das verdammte Recht, ihn zu verschwenden!
    Solwegyn stützte den Kopf in die Linke und überließ sich trüben Gedanken. Sein zerstörtes Auge schmerzte. Er hätte es vorgezogen, seine Sehkraft an der Front eingebüßt zu haben. Im Tschad oder bei der Geiselbefreiung von Loyada. Lieber noch in Kolwezi, als Mobutu die Legion zur Hilfe gerufen hatte, um dreitausend Europäer aus den Klauen der Katanganer zu retten. Das waren noch Einsätze gewesen.
    Aber in der Legion wurde nicht mehr gestorben wie in Indochina, als der Kampf gegen die Viet Minh mehr als zehntausend Männer das Leben gekostet hatte. Die letzte blutige Schlacht hatte man sich zu Beginn der sechziger Jahre in Algerien geliefert. Danach las sich die Statistik der Opfer wie eine Reihe von Druckfehlern. Acht Gefallene in Dschibuti. Fünf in Zaire. Einer im Tschad. Niemand in Gabun, niemand am Golf.
    Solwegyn empfand keinen romantischen Schauder beim Gedanken an hohe Verluste, wie sie manch einen angesichts des Monument aux Morts überkamen. Aber sein Verständnis, was ein Krieg war und wie er geführt wurde, kam ohne Opfer nicht aus. Auch wenn es zu begrüßen war, daß immer weniger Legionäre bei Einsätzen starben, drängte sich zugleich der Gedanke auf, die Legion habe sich überlebt. Mittlerweile – und das war es, was Solwegyn wirklich beunruhigte – wurden Kriege geführt, die er nicht mehr verstand. In Zaire hatte man die Legion gebraucht. Am Golf schien es eher, als habe sie dabeisein dürfen, so wie der Veteran im Rollstuhl,

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