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Die dunkle Treppe

Die dunkle Treppe

Titel: Die dunkle Treppe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Helen Fitzgerald
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Kette hatte er auch diesmal nicht am Boden befestigt. Ihr Füße waren weniger fest zusammengezurrt, sodass sie strampeln und mit dem Stuhl fast nach Belieben hin und her ruckeln konnte. Und das Seil war wirklich dürftig um ihren Oberkörper geschlungen: Zwischen ihrem Rücken und der Stuhllehne klaffte ein mehr als zwei Zentimeter breiter Spalt.
    Kaum dass er sich die Treppe hochgeschlichen und den Keller verlassen hatte, wurde sie von positiven Gefühlen fast überwältigt. Mit frei beweglichen Fingern, wackelnden Zehen, einem Vorhängeschloss und einer Fahrradkette lag ihr quasi die Welt zu Füßen.
    ***
    Celia teilte ihre Tage in Abschnitte ein. In der ersten Schicht rieb sie die Seile in der Hoffnung, dass sie dadurch mürbe würden. Die Seile waren einen halben Zentimeter dick, aus weißem Nylon – und absolut unnachgiebig. Celia rieb nach Kräften mit Händen und Beinen, drückte sich gegen Wand, Stuhl, Rohr und Tisch, aber die Knoten hielten, und die Seile schienen völlig resistent gegen Abrieb und Dehnung zu sein.
    In ihrer zweiten Schicht versuchte sie, trotz ihrer Fesseln die Treppe zu erklimmen. Sie ruckelte mit dem Stuhl vor die unterste Stufe und warf sich so lange nach vorn, bis ihr Kinn auf der dritten Stufe landete. Dann versuchte sie, die Knie auf die erste Stufe zu platzieren und sich unter Zuhilfenahme von Kinn und Knien langsam nach oben zu kämpfen. Letztlich bestand ihr Hauptziel nur noch darin, aus dieser Ausgangsposition wieder herauszukommen. Der Plan selbst erwies sich als undurchführbar.
    Während ihrer dritten Schicht hämmerte sie mit den Fäusten gegen die Wand, und sobald ihre Fäuste zu sehr schmerzten, benutzte sie die Stirn. Jemand musste sie doch hören – einer der Bewohner oben im Haus, ein Passant, ein Nachbar, der den Müll aus dem Haus brachte oder etwas aus dem Keller des Nachbarhauses holte … irgendjemand.
    In der vierten Schicht hackte sie mit dem Vorhängeschloss auf die Tür im Flur ein. Es gelang ihr, etwas Holz rund um das Türschloss abzuschlagen.
    Die fünfte Schicht: mit dem Bügel des Vorhängeschlosses an Fesseln und Knebel zerren.
    Die sechste: mit dem Fahrradschloss auf den Boden schlagen.
    Sieben: am nassen Knebel lutschen.
    Aber ihre Fesseln und der Knebel gaben nicht nach, die verschlossene Tür ließ sich nicht öffnen, die Treppe war eine unüberwindliche Hürde, und niemand schien in Hörweite zu sein – keine Menschenseele, die etwas hörte.
    ***
    Celia war immer ein zielstrebiger Mensch gewesen. Im Kindergarten hatte sie schneller als die anderen Kinder laufen gelernt. In ihrem ganzen Leben hatte sie niemals Blumenkohl gegessen. Und ihre beiden Jungs hatte sie in der heimischen Badewanne zur Welt gebracht, in qualvollen Hausgeburten ohne Schmerzmittel. Nie hatte sie klein beigegeben – nicht, als Greg gesagt hatte, er wisse nicht, ob er Kinder wolle; nicht, als Johnny sich geweigert hatte, Danke zu sagen; nicht, als Sam verkündet hatte, er wolle niemals Fahrrad fahren. In ihrem ganzen Leben hatte Celia all ihre selbst gesteckten Ziele erreicht.
    Aber nachdem sie wochenlang in der schrecklichsten Situation, die man sich vorstellen kann, ihren zielstrebig denkenden Kopf nicht hatte hängen lassen, begann sie einzusehen, dass es diesmal anders war. Diesmal würde sie aufgeben müssen.
    Es war ungefähr zehn Nächte her, dass oben die neuen Leute eingezogen waren – ganz genau wusste sie das nicht, weil sie mindestens einen Wechsel von Tag zu Nacht verpasst hatte –, und sie war am Ende ihrer Weisheit. Sie hatte all ihre geistige Energie und körperlichen Reserven verbraucht, und nun musste sie anerkennen, dass es Zeit zum Aufgeben sei. Sie würde sterben. Sie würde Greg, Johnny und Sam niemals wiedersehen. Niemand würde ihre Leiche finden, niemand würde jemals erfahren, dass sie vor ihrer eigenen Haustür verschleppt, verprügelt und vergewaltigt worden war, um letzten Endes zu verhungern. Es wäre besser, wenn sie stürbe. So dachte sie, als sie in dem stinkenden Flur am Fuß der Treppe saß.
    Dann hörte sie einen Wasserhahn laufen. Neben dem Schlafzimmer der jungen Frau musste sich ein Badezimmer befinden. Sie folgte dem Geräusch entlang der Wand, bis sie zu der Stelle kam, wo es durch ein Rohr gluckerte. Langsam und beschwerlich ruckelte sie mit dem Stuhl zum Rohr und schlug mit den Händen dagegen. Gute, kraftvolle Schläge, auf die sie stolz war. Unermüdlich hämmerte sie gegen das Rohr, bis sie endlich ein Geräusch aus dem Badezimmer

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