Die dunklen Farben der Begierde (German Edition)
Dreißig, einunddreißig …
«Clarissa!», ertönte eine drängende Stimme.
Sie war erleichtert. Er war da. Gabriel war hier. «Wo bist du?», zischte sie, blickte um sich und ging auf das Geräusch zu.
«Hierher», flüsterte er aus den Büschen ein Stückchen weiter den Pfad hinunter.
Clarissa kicherte und bewegte sich behände. Also hatte er schon ein geheimes Plätzchen gefunden. Sie blieb stehen, wo sie die Stimme gehört zu haben meinte.
«Gabriel?», sagte sie mit leiser, erwartungsvoller Stimme. Dann hörte sie ein lautes Rascheln und das Geräusch von Füßen, die hinter ihr auf dem Boden landeten. Bevor sie sich noch umdrehen konnte, hatte sich eine Hand über ihre Augen gelegt. Ihr Puls raste.
«Lass das», lachte sie. «Hör auf, mit mir Versteck zu spielen.
Aber die Hand drückte jetzt fester zu und zog sie nach hinten. Dann schlug etwas genau in ihre Magengrube. Clarissa krümmte sich, wand sich, weil ihr der Hieb den Atem genommen hatte. Sie wurde von Panik ergriffen, und ihre Gedanken überstürzten sich. Der Boden unter ihr drehte sich, und sie konnte zwei Paar Füße erkennen, das eine in Oxfordschuhen, das andere in groben Stiefeln. Das war nicht Gabriel. Sie würde sterben.
Sie keuchte, schnappte nach Luft. Eine Hand legte sich jetzt über den unteren Teil ihres Gesichts, und etwas wurde ihr zwischen die Zähne geschoben. Es war Stoff, rau und trocken, der ihren Mund ausfüllte und ihre Lippen zu einer Grimasse stummen Protests aufgerissen hielt. Sie erhaschte den Anblick eines zerzausten Bartes, bevor eine Augenbinde sie in ein schwarzes Loch stieß. Sie war zu fest gebunden, und es breiteten sich violette Flecken in der Dunkelheit aus. Sie wand und wehrte sich, bis ein eiserner Griff ihre Ellenbogen packte und sie hinter ihrem Rücken zusammendrückte.
«Sei still, Schlampe», knurrte jemand in ihr Ohr.
Der Mann roch nach Pferden und Tabak, und sie spürte seinen schlechten, sauren Atem heiß auf ihrem Gesicht. Seine Bartstoppeln kratzten über ihre Wangen, und sie wand sich, um sich von ihm zu befreien, zeterte dumpf in ihren Knebel, konnte kaum noch atmen. Eine strafende Hand griff nach ihrem Handgelenk, drehte ihren Arm um, und ein höllischer Schmerz durchschoss ihre Schulter. Es war sinnlos, vollkommen sinnlos. Ihr Körper wurde von ersticktem Schluchzen geschüttelt. Sie war doch noch so jung. Das hatte sie nicht verdient. Sie betete nur noch, dass ihr Ende wenigstens schmerzlos würde.
«Ihr werdet eine kleine Reise antreten, Miss Longleigh», schnarrte eine zweite Stimme. «Man wünscht Eure Gesellschaft. Wenn Ihr meinen guten Rat wollt: Versucht nicht, Euch zu wehren. Ihr werdet Eure Kraft dazu später noch brauchen.»
Kapitel sechs
Clarissas Absätze klapperten über den harten Fußboden – gefliest, dachte sie: Das erzeugte diesen klaren Ton, dieses rutschige Gefühl. Hinter ihr quietschte eine Tür, und mit dem dumpfen Klang von schwerem Holz schloss sie sich. Sie hörte den schabenden Laut, der entsteht, wenn ein Riegel vorgeschoben wird, und das stotternde Klackern eines Schlüssels in einem Schloss. Weibliche Schritte entfernten sich. Jedes dieser Geräusche schien aufzusteigen und als ein eindringliches Echo wieder zu ihr zurückzukommen.
Sie wusste, dass sie sich noch in London befand, obgleich sie nicht wusste, in welcher Gegend. Die Kutsche, in die man sie gesteckt hatte, war die Kings Road hinuntergefahren, den einzigen Weg aus den Lustgärten von Cremorne hinaus, und ihr Orientierungssinn sagte ihr, dass sie sich nun irgendwo nördlich davon befinden musste. Aber wo genau – besser noch: warum? –, wusste sie nicht.
«Willkommen im Asham House», sagte eine Stimme zu ihrer Rechten.
Clarissas Herz zog sich zusammen. Asham House, Asham House. Der Name tanzte und wirbelte in ihrem Kopf herum, immer und immer wieder wiederholte sie ihn ohne Sinn in ihrer angstbesessenen Aufgewühltheit. Es war Lord Marldons Stadtresidenz. Also wusste er, wer sie war. Er hatte sie hierherholen lassen. Sie war in Piccadilly, in seinem Haus.
Dies war die Bestätigung dessen, wovor sie am meisten Angst hatte. Ein Anfall des Entsetzens ließ sie sich heftig gegen ihre Entführer wehren. Sie gab drängende Protestlaute von sich, aber der Knebel hielt jeglichen Ton in ihrem Mund gefangen.
Dumpfes, herablassendes Lachen begleitete ihre vergeblichen Bemühungen.
«Halt still, Schlampe», ertönte die andere unheimliche Stimme. Dann spürte sie einen kalten, metallischen Gegenstand
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