Die dunklen Farben der Begierde (German Edition)
offensichtlich, dass Gabriel keinerlei Augen mehr für sie hatte und die Situation eine sehr viel ernsthaftere geworden war.
«Mein lieber Freund», sagte Julian und goss ruhig Tee nach. «Die Schließung von Madame Jane’s wäre ein weiterer Nagel in Londons Sarg. Es gibt kaum einen anderen Ort, an dem man sich nach wie vor traut, die Zulassungsverordnungen so unverhohlen und in großem Stil zu missachten.»
Lucy warf ihm einen vernichtenden Blick zu. «Lord Julian scheint entweder unglaublich selbstsüchtig oder ausgesprochen zu Scherzen aufgelegt zu sein», sagte sie in sprödem Ton. «Oder sehr wahrscheinlich beides.»
«Sehr wahrscheinlich.» Er lächelte und trank geziert einen Schluck Tee. «Aber immerhin sind wir schon einen Schritt weiter. Mr. Ardenzi scheint davon abgekommen zu sein, einen Mord begehen zu wollen.»
Gabriel sah ihn mit düsterem, wütendem Blick an.
«Ich denke nicht, dass das schon erwiesen ist», murmelte Kitty.
Lord Julian lachte. «Verzeiht mir, wenn ich Euch verärgere. Aber gewiss könnt Ihr den Sinn meiner Argumente erkennen. Alec Marldon ist ein schlauer Mann. Er hat Freunde in hohen Positionen, und er verfügt über Einfluss. Wie sonst hätte Madame Jane’s sonst überleben können? Jedes Bordell in der Panton Street außer seinem ist mittlerweile entweder geschlossen worden oder wird illegal betrieben. Himmel, man könnte eine ganze Wagenladung Polizisten nach Asham House schicken, und er würde wahrscheinlich die meisten von ihnen mit dem Vornamen ansprechen. Er würde ihnen irgendwelche sündigen Vergnügungen anbieten, und dann würden sie wieder abziehen, glücklich wie Kinder, denen man Bonbons schenkt.»
Gabriel sprang auf. Das kleine Dienstmädchen, das die ganze Zeit argwöhnisch und angespannt dagesessen hatte, folgte jeder seiner Bewegungen mit großen, ängstlichen Augen. Er fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und begann, zwischen den beiden Sesseln, die am Feuer standen, hin- und herzugehen.
Lucy unterdrückte das Bedürfnis, ihm Vorwürfe zu machen. «Ich befürchte, Julian hat recht», sagte sie teilnahmsvoll und in der Hoffnung, die Spannung ein wenig zu lösen. «Wir müssen Marldon auf dem falschen Fuß erwischen, wir müssen ihn mit seinen eigenen Mitteln, auf seinem eigenen Feld schlagen. Und egal, wie wir das anstellen werden: Ich möchte wirklich gern sehen, wie er sich dann windet und wie er leidet.»
Sie hatte Lord Marldon jene Nacht und das, was auf Olivias Ball geschehen war, nicht verziehen. Julian gegenüber hatte sie darauf bestanden, dass sie es einzig und allein nur deswegen getan hatte, um Lord Alexander davon abzuhalten, mit Clarissa zusammenzutreffen. Die Wahrheit sah allerdings anders aus. Er hatte sie enorm erregt. Es war ihm gelungen, ihr Verlangen derart anzustacheln, dass sie sich schnell bereitgefunden hatte, sich von ihm erniedrigen zu lassen, nur um ihre Lust zu stillen. Er hatte es wirklich außerordentlich geschickt angestellt, und dafür verachtete sie ihn. Sie konnte nur hoffen, dass ihr Kusine Clarissa deutlich mehr Willenskraft besaß als sie selbst.
«Also, irgendwelche klugen Ideen?», fragte Gabriel und stieß seine Hände tief in die Taschen.
Schweigen senkte sich über den Raum. Unten auf der Straße hörte man eine Kutsche vorüberrumpeln. In der Halle läutete die Uhr zur halben Stunde.
Lucy stand auf und wandte sich an das Hausmädchen der Longleighs. Es war ihr zu verdanken gewesen, dass sie überhaupt etwas über Clarissas Verbleib erfahren hatten. Unmittelbar nachdem sie die anderen Diener belauscht hatte, war sie schnell zu Gabriels Haus gelaufen. Das Mädchen war seiner Herrin offenbar treu ergeben.
«Magst du deine Arbeit, Kitty?», erkundigte sich Lucy.
Gabriel stöhnte, ließ sich schwer in einen Sessel sinken und bedeckte sein Gesicht mit den Händen.
Kitty zuckte mit den Schultern. «Sie ist annehmbar, Ma’am», sagte sie. «Sonntag Nachmittag habe ich frei und einmal im Monat einen Mittwoch. Montag mag ich allerdings nicht so gern, dann ist Waschtag.»
Lucy lächelte. «Hättest du Lust, morgens lange auszuschlafen, elegante Kleider zu tragen und am Abend gutgekühlten Champagner zu trinken?»
Julian stand auf, um sich zu Lucy zu gesellen, und ließ eine Hand über ihr Rückgrat abwärts gleiten. Er sah das hübsche junge Dienstmädchen aufmerksam an, und ein breites Lächeln ging über sein Gesicht.
«Natürlich hätt ich das», antwortete Kitty und ließ schmollend die Unterlippe hängen.
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