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Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Die dunklen Farben des Lichts (German Edition)

Titel: Die dunklen Farben des Lichts (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrea Gunschera
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war.
     
     
     
    Später, im Zug nach Rotterdam, wagte er es, seinen Blick auf andere Menschen zu richten. Vor ihm telefonierte ein Geschäftsmann mit gedämpfter Stimme. Auf der anderen Seite unterhielten sich zwei alte Damen, in eine Aura stiller Zufriedenheit gehüllt.
    Er dachte an sein Atelier, die Staubschicht auf seinen Farbtuben und an die verrotteten Blumen. Eine Welle von Scham spülte über ihn hinweg.
    Am Morgen hatte er sich im Spiegel betrachtet, zum ersten Mal ohne Selbstmitleid, und dann hatte er sich rasiert, sein Haar gewaschen und die Locken zu einem Zopf gebunden. Er hatte frische Kleidung angezogen und den Staub aus dem Mantel geschüttelt. Und schließlich die unsichtbare Linie überschritten.
    Er lehnte seinen Kopf in die Sitzpolster und lauschte dem Rhythmus der stampfenden Räder. Die Lider wurden ihm schwer. Seine Gedanken wanderten zu Paul Verhoeven. Er hatte nichts mehr vom Galeristen gehört seit ihrer letzten Begegnung auf Marthas Bestattung. Wenn das Bild einen Weg in die Ausstellung der Rotterdamer Kunsthal gefunden hatte, musste Verhoeven davon wissen.
    Vielleicht wäre es besser gewesen, Verhoeven zuerst anzurufen. Vielleicht war sein überstürzter Aufbruch keine gute Idee gewesen. Er hatte nicht einmal eine Karte für die Vernissage. Und selbst wenn es ihm gelang, noch eine zu ergattern, was wollte er tun, wenn er in der Kunsthal vor dem Gemälde stand? Darüber hatte er gar nicht nachgedacht.
    Ein paar Herzschläge lang nagten Zweifel an seiner Entschlossenheit, aber dann presste er seine Fingerspitzen gegen die Schläfen und zwang sich zur Konzentration.
    Ja, er hatte seinen Entschluss in Eile gefasst. Aber es spielte keine Rolle. Er hatte diesen Befreiungsschlag gebraucht, und er verlor nichts, wenn er sich zuerst als Beobachter näherte. Er wollte das Bild ja nur sehen. Und dann konnte er entscheiden, was er als nächstes tun sollte.
    Zum Beispiel, den Galeristen anzurufen.
    Ihm wurde schwindlig bei der Vorstellung, auf welchen Wert sie die Fälschung taxiert haben mochten. Der Redakteur in der Zeitung hatte das Wort ‚unschätzbar’ benutzt. Wenn es eine Ausstellung gab, dann gab es auch Versicherungen, und Versicherungen bestanden auf der Angabe eines Geldwerts. Was kostete ein Vermeer-Gemälde auf dem freien Markt? Und wie war das Museum in den Besitz der Fälschung gelangt?
    Er schloss die Augen und kämpfte gegen die aufsteigende Übelkeit an. Vielleicht war Verhoeven unschuldig, hatte das Bild versucht zu entsorgen, und dann hatte es jemand es gefunden und dann...
    Unsinn. Er musste sich nichts vormachen. Verhoeven hatte die Fälschung wohl kaum in eine Abfalltonne an der Straße geworfen, wo Passanten es aus dem Müll gerettet und als wertvolles Kunstwerk identifiziert hatten.
    Verhoeven hing mit drin.
     
     
     
    Als Henryk an der Kasse der Kunsthal nach Karten für die abendliche Vernissage fragte, lächelte die Dame hinter dem Schalter bedauernd und erklärte, dass die Veranstaltung ausverkauft sei. Sein Enthusiasmus fiel in sich zusammen wie eine leere Hülle. Er stand eine Zeitlang unschlüssig im Foyer und setzte er sich schließlich hinaus in die Sonne.
    Eine halbe Stunde später gab eine Besucherin zwei Tickets zurück, und Triumphgefühl kehrte in seine Brust zurück.
    Den Rest des Nachmittags verbrachte er in der kleinen Parkanlage auf der Rückseite der Kunsthal.
    Sein Skizzenbuch hatte all die Zeit unberührt in der Tasche gelegen. Er befreite es aus seiner Hülle, schlug es auf und begann zu zeichnen. Mit ein paar Strichen bannte er das erste Motiv, das ihm in den Sinn kam.
    Der Kohlestift hinterließ eine breite, tiefschwarze Spur und er spürte, wie der Zauber zurückkehrte und Besitz von ihm ergriff.
    Er zeichnete einen Ast, und dann einen Spaziergänger und schließlich die lange Fassade der Kunsthal, die sich von ihm fortzog wie die Rampe eines Raumhafens. Die Sonne fing sich in den großen Scheiben und wärmte sein Gesicht.
    Als die Dämmerung heraufzog, stand er von seiner Bank am Wassergraben auf und entfernte sich ein Stück vom Gebäude. Er skizzierte einen verkrüppelten Baum und verwandelte ihn beim Malen in etwas anderes, belebte ihn und verlieh ihm eine Seele. Darüber vergaß er die Zeit. Bei seiner Rückkehr zum Foyer der Kunsthal drängten sich bereits Gruppen von Gästen im Eingangsbereich.
    Ihn übermannte die vertraute Unsicherheit beim Eintauchen in die Menge. Es war nicht vergleichbar mit jenem Abend in der Galerie, weil er hier

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