Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
verließ. Der Mann war eine gute Handbreit kleiner als er selbst und deutlich zierlicher. Als er sich ihm zuwandte, blitzte Erkennen in seinen grauen Augen auf, und Giuliano fiel ein, dass er ihm in der Hagia Sophia schon einmal begegnet war. Es war ebender, der gesehen hatte, wie er Enrico Dandolos Grabmal säuberte, und auf dessen Gesicht ein Ausdruck von Qual und großem Mitgefühl getreten war.
»Guten Morgen«, sagte Giuliano rasch, bevor ihm der Gedanke kam, dass das voreilig sein könnte und sich als plumpe Vertraulichkeit auslegen ließe. »Giuliano Dandolo, Gesandter des Dogen von Venedig«, stellte er sich vor.
Der Eunuch lächelte. Zwar wirkte sein Gesicht nicht besonders männlich, wohl aber charaktervoll, und es zeigte die gleiche brennende Intelligenz, die Giuliano in der Hagia Sophia darin zu sehen geglaubt hatte.
»Anastasios Zarides«, sagte der Eunuch. »Von Zeit zu Zeit Arzt des Kaisers Michael Palaiologos.«
Giuliano war überrascht. Er hätte den Mann nicht als Arzt angesehen. Das aber war nur eine weitere Erinnerung daran, wie andersartig Byzanz war. Er beeilte sich zu sagen: »Ich lebe im venezianischen Viertel.« Er wies in die ungefähre Richtung des Hafens. »Aber ich fange an zu glauben, dass mich das daran hindert, die Stadt näher kennenzulernen. « Er hielt inne und ließ den Blick über die Dächer schweifen. Weiter unten lag das im Licht der Morgensonne schimmernde Goldene Horn, über das Schiffe aus allen Teilen des Mittelmeers fuhren. Die Luft war warm, und Giuliano glaubte vom Hafen herüber den Geruch nach Salz und Spezereien wahrnehmen zu können.
Anastasios folgte seinem Blick. »Wenn ich mich frei entscheiden dürfte, würde ich dort leben, wo man die Sonne über dem Bosporus auf- und untergehen sehen kann, und dafür ist eine gewisse Höhe nötig. Leider ist es teuer, an solchen Stellen zu wohnen.« Er lachte. Es war deutlich, dass er über sich selbst spottete. »Um mir das leisten zu können, müsste ich dem reichsten Mann von Byzanz das Leben retten, doch er befindet sich zu seinem Glück, wenn auch nicht unbedingt zu meinem, bei bester Gesundheit. «
Belustigt sah Giuliano zu ihm hin. »Und würde er nach Euch schicken lassen, wenn er krank wäre?«, fragte er.
Anastasios zuckte die Achseln. »Dann vielleicht – gegenwärtig tut er es nicht.« Er ließ es wie einen Scherz klingen.
»Und wo wohnt Ihr jetzt, da Ihr nur den Kaiser behandelt? «, fragte Giuliano leichthin.
Anastasios wies nach unten.
»Dort, hinter den Bäumen. Auch von da habe ich einen guten Ausblick, allerdings nur nach Norden. Aber nur hundert Schritte weiter liegt eine wunderbare Stelle, mein liebster Platz in der Stadt. Es ist eine kleine Landspitze, von der aus man in nahezu alle Richtungen sehen kann. Dort ist es ruhig, denn kaum jemand geht je dorthin. Vielleicht bin ich der Einzige, der genug Zeit hat, sich dort hinzustellen und den Anblick zu genießen.«
Plötzlich kam Giuliano der Gedanke, dass der Eunuch in Wahrheit hatte sagen wollen ›mich dort hinzustellen und zu träumen‹, seine Befangenheit ihn aber daran gehindert hatte.
»Seid Ihr hier geboren worden?«, fragte er.
Anastasios schien überrascht. »Nein. Meine Eltern haben im Exil gelebt. Ich bin in Thessaloniki zur Welt gekommen und in Nikaia aufgewachsen. Aber hier ist die Heimat unserer Vorfahren, der Mittelpunkt unserer Kultur und, wie ich denke, auch der unseres Glaubens.«
Giuliano kam sich töricht vor. Natürlich war der Mann anderswo zur Welt gekommen. Er hatte vergessen, dass nahezu jeder in dieser Stadt, mit dem er sprach, zur Zeit der Vertreibung und daher nicht in der Stadt geboren war.
»Meine Mutter ist in Nikaia geboren worden«, sagte Giuliano und fragte sich sogleich, warum er das getan hatte. Er sah beiseite.
Als hätte er darin eine Art Rückzug gesehen, wechselte Anastasios das Thema. »Es heißt, dass Venedig teilweise wie Konstantinopel ist. Stimmt das?«
»Ja, teilweise«, gab er zurück. »Vor allem dort, wo es Mosaiken gibt. Eines liebe ich ganz besonders, es gehört zu einer Kirche, die sehr ähnlich wie eine hier in der Stadt ist.« Mit einem Mal fiel ihm ein, eine wie große Zahl byzantinischer Kunstwerke im Jahre 1204 geraubt worden war, und er spürte, wie sein Gesicht vor Verlegenheit glühte. »Und natürlich die Buden der Geldwechsler und die …« Er hielt inne. Einst war der Seidenhandel das Monopol von Byzanz gewesen, jetzt lag er vollständig in den Händen Venedigs, bis hin zum
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