Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
kann mich erinnern, dass ich ihm im Garten zur Hand gegangen bin«, fuhr er fort. »Zumindest bildete ich mir ein, dass ich ihm damit geholfen habe. Vermutlich war ich ihm eher im Wege, aber das hat er nie gesagt. Wir haben gemeinsam Kräuter gezogen, und dabei habe ich sie alle kennengelernt, ihr Aussehen, ihren Geruch, welcher Teil von ihnen sich verwenden lässt, ob Wurzel, Blatt oder Blüte, wie man sie erntet und dafür sorgt, dass sie nicht verderben.«
Giuliano stellte es sich vor, den kleinen Jungen und den Vater, der ihn mit unendlicher Geduld unterwies.
»Auch ich habe von meinem Vater gelernt«, sagte er rasch. »Er hat mir die Namen aller Inseln beigebracht, die zu Venedig gehören, hat mich mit den Wasserstraßen vertraut gemacht und mit der Anlage des Hafens. Er hat mich auf die Werften geführt und mir gezeigt, wie man ein Schiff auf Kiel legt, die Spanten ansetzt, sie beplankt und die Planken kalfatert, und auch, wie man die Masten einsetzt.« In beiden Fällen war es das Gleiche: Ein Mann brachte seinem Kind bei, was ihm selbst am Herzen lag, die Fähigkeiten, mit denen er seinen Lebensunterhalt verdiente. Es stand ihm deutlich vor Augen, stets war es der Vater gewesen, nie die Mutter. »Er kannte jeden Hafen zwischen Genua und Alexandria«, fuhr er fort. »Und von jedem wusste er, was dort gut und schlecht war.«
»Hat er Euch auf seine Reisen mitgenommen?«, fragte Anastasios. »Und habt Ihr all diese Orte kennengelernt?«
»Einige.« Er erinnerte sich an alles, was er auf den Schiffen gesehen hatte, musste daran denken, wie er seekrank in der Kajüte gelegen hatte, wie fremd und erregend alles in Alexandria gewesen war, die Hitze, die Gesichter der Araber,
die Sprache, die er nicht verstand. »Es war schrecklich und zugleich wunderbar«, sagte er mit leichter Schwermut. »Ich denke, ich war den größten Teil der Zeit starr vor Angst, wäre aber lieber gestorben, als das zuzugeben. Wohin hat Euer Vater Euch mitgenommen?«
»Anfangs nirgendwohin, später meist zu alten Menschen mit Lungen- und Herzleiden. Ich kann mich noch gut an den ersten Toten erinnern, den ich gesehen habe.«
Giuliano öffnete die Augen weit. »Wie alt wart Ihr da?«
»Ungefähr acht. Wer Arzt werden will, darf nicht zimperlich sein, wenn es um Leichen geht. Mein Vater war ein freundlicher und herzensguter Mensch, aber bei jenem Besuch hat er mir gezeigt, woran sein Patient gestorben war.« Er hielt inne.
»Was war das?« Giuliano versuchte sich ein Kind mit Anastasios’ ernsthaft blickenden grauen Augen, dem zarten Knochenbau und dem weichen Mund vorzustellen.
Anastasios lächelte. »Der Mann war hinter einem Hund hergerannt, der ihm sein Abendessen gestohlen hatte, und dabei über ihn gestolpert. Er hatte sich das Genick gebrochen. «
»Das habt Ihr Euch ausgedacht!«, hielt ihm Giuliano vor.
»Aber nein. Das war der Anfang meines Anatomieunterrichts. Vater hat mir alle Muskeln des Rückens und die Knochen der Wirbelsäule gezeigt.«
Giuliano war verblüfft. »Darf man das denn? Es war doch ein Mensch.«
»Nein, natürlich darf man das nicht«, gab Anastasios mit breitem Lächeln zurück. »Aber ich habe das nie vergessen. Ich hatte große Angst, dass man ihn ertappen würde. Ich habe mir alles aufgezeichnet, um es für alle Zeiten zu wissen.
« Mit einem Mal lag eine sonderbare Trauer in seiner Stimme.
»Wart Ihr das einzige Kind?«, fragte Giuliano.
Einen Augenblick schien Anastasios verwirrt. »Nein. Ich hatte … habe einen Bruder. Jedenfalls nehme ich an, dass er noch lebt.« Er haderte mit sich, weil er das eigentlich nicht hatte sagen wollen. Er wandte den Blick ab. »Ich habe schon eine ganze Weile nichts von ihm gehört.«
Giuliano wollte nicht weiter in ihn dringen. »Bestimmt ist Euer Vater stolz auf Eure Fähigkeiten, denn immerhin behandelt Ihr den Kaiser.«
Anastasios entspannte sich. »Das wäre er bestimmt, wenn er noch lebte.« Er holte tief Luft, stieß sie langsam wieder aus und sagte eine ganze Weile nichts, bis er dem Meer erneut den Rücken zukehrte. »Warum fragt Ihr nach der Familie Agallon? Sind es Verwandte von Euch?«
»Ja.« Giuliano hatte nicht die Absicht, die Unwahrheit zu sagen. »Meine Mutter stammt aus Byzanz.« Sogleich sah er auf Anastasios’ Zügen, dass dieser seinen inneren Konflikt begriff. »Ich habe mich ein wenig umgehört und dabei festgestellt, dass es Menschen gibt, die mir vielleicht mehr sagen können.« Anastasios, der Giulianos Zögern spürte, sagte
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