Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
41
Zwei Wochen später legte Giulianos Schiff im Hafen von Palermo an, und er trat im grellen Sonnenlicht auf die Mole. Blau glänzte das Wasser bis zum Horizont. Die Stadt erhob sich auf sanft ansteigenden Hügeln. Die Farben der Gebäude waren blass wie die ausgebleichte Erde. Nur hier und da bildeten die Blüten von Schlingpflanzen einen Farbtupfer, hingen Kleidungsstücke in kräftigen Farben zum Trocknen vor den Fenstern der Häuser.
Bevor er sich am Hof des Königs beider Sizilien meldete, wollte er die Stadt ein wenig erforschen und etwas über ihre Bewohner erfahren. Er musste immer bedenken, dass sie von einer fremden Macht besetzt war, denn französisch war sie nur an der Oberfläche, im Herzen ihrer Bewohner aber sizilianisch. Daher musste er deren Stimmung erkunden.
Er machte sich auf, eine Unterkunft zu suchen, nach Möglichkeit bei einer ortsansässigen Familie. Das würde ihm eine Gelegenheit geben, zumindest teilweise deren nähere Lebensumstände und wahre Meinungen kennenzulernen. Die beiden ersten, bei denen er anfragte, hatten keinen Platz, doch die dritte hieß ihn willkommen.
Von außen sah das schlichte Haus eines Fischers namens Giuseppe, neben dem Netze und Hummerkörbe trockneten, aus wie alle anderen. Im Inneren war die Armut seiner
Bewohner deutlicher zu sehen. Der mit Platten aus gebranntem Ton bedeckte Boden war ebenso abgenutzt wie die Möbel. Das Geschirr, schöne, schwere blau glasierte Keramik, war zum Teil angeschlagen. Man verlangte für ein Zimmer und die volle Verpflegung einen Preis, den er für zu gering hielt, und er wusste nicht recht, ob er Giuseppe mehr anbieten sollte oder ihm damit in prahlerischer Weise vor Augen führte, dass er vergleichsweise wohlhabend war.
Giuliano verbrachte vier Wochen bei Giuseppe und dessen Familie und lernte in ihnen Menschen kennen, die trotz ihrer Armut lebensfroh und glücklich waren. Während er ihren Gesprächen wie auch denen anderer Fischer und Bauern in den Schenken der Stadt zuhörte, erkannte er in dem, was die Leute sagten, Zorn und auch Hilflosigkeit. Der Groll der Bevölkerung gegen den Unterdrücker ließ sich überall mit Händen greifen. Um ihn offen ausbrechen zu lassen, würde eine unbedachte Handlung genügen, die in das Leben dieser Menschen eingriff – eine entweihte Kirche, ein misshandeltes Kind, eine vergewaltigte Frau. Wenn er das zu erkennen vermochte, waren auch Kaiser Michaels Späher dazu imstande, sofern er welche dort hatte. Die Frage hieß nicht, ob der Willle zum Widerstand da war, sondern, ob sich die Kräfte hinreichend bündeln ließen, damit Aussicht auf Erfolg bestand. Falls sich die Sizilianer erhoben und ihr Aufstand niedergeschlagen würde, wäre das eine Tragödie.
Giuliano stellte sich schließlich am Hof des Herrschers vor, der in Palermo als König beider Sizilien auftrat. Die Pracht des Palastes überraschte ihn in keiner Weise, doch sah er auch, dass der Hofstaat vergleichsweise kurzgehalten
wurde – die übermäßig hohen Steuern, die Charles dem Land abpresste, dienten nicht dem Wohlleben, sondern waren für die Finanzierung seiner Kriege bestimmt. Die Höflinge gingen einfach gekleidet, und das einzige Mittel, mit dem der König Respekt einfordern konnte, war seine Macht. Er brannte wie immer vor Energie und zeigte, als er Giuliano willkommen hieß, dass er genau wusste, wen er vor sich hatte.
»Ah! Ihr seid also zurück, Dandolo«, sagte er begeistert. »Ihr wollt wohl sehen, wie wir mit den Vorbereitungen für den Kreuzzug vorankommen?«
»Ja, Majestät«, antwortete Giuliano und legte einen Ausdruck größerer Begeisterung auf sein Gesicht, als er empfand.
»Nun, mein Freund …« Der Herrscher versetzte ihm einen kräftigen Schlag auf den Rücken. »Alles steht bestens. Ganz Europa macht sich bereit, dem Ruf zu folgen. Wir stehen im Begriff, das Christentum zu einen. Ein Heer, das im Auftrag Gottes in den Kampf zieht. Könnt Ihr es vor Euch sehen, Dandolo?«
Darauf gab es nur eine mögliche Antwort. »Gewiss«, sagte er. »Ich freue mich schon auf den Tag, an dem es keine Vision mehr, sondern Fleisch und Blut geworden ist.«
»Mehr als Fleisch und Blut«, berichtigte ihn Charles mit einem misstrauischen Seitenblick. »Wir müssen es in Stahl und Holz haben, mitsamt Wein, Salz und Brot. Wir sind auf die Bereitschaft und den Mut aller angewiesen, und wir brauchen das Gold, nicht wahr?«
»Ja, all das brauchen wir«, stimmte Giuliano zu. »Aber nur dann, wenn es willig gegeben
Weitere Kostenlose Bücher