Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
würde.
Pavlos empfahl sie weiter. Sie fuhr fort, die Läden im Umkreis von etwa einer Meile um ihr Haus herum aufzusuchen, sprach stets mit dem Inhaber und, sofern sich eine Gelegenheit dazu ergab, auch mit Kunden.
Sie wusste nicht, wie weit sie ihren Vorlieben nachgeben durfte. Als Frau hatte sie stets gern Seide auf ihrer Haut gespürt, es genossen, wie sie ihr weich durch die Finger glitt und auf dem Boden mit flüssiger Bewegung in sich zusammensank. Jetzt hielt sie ein Stück Seide hoch und sah zu, wie die Farben darauf spielten, je nachdem, ob das Licht auf die Kett – oder auf die Schussfäden traf. Tiefes Blau wurde über Pfauenblau zu Grün, Rot verwandelte sich über Magenta zu Lila. Am liebsten hatte sie früher einen leuchtenden Pfirsichton getragen, der wunderbar zu ihrem kastanienbraunen Haar passte. Vielleicht konnte sie das nach wie vor tun. Eitelkeit war nicht unbedingt eine weibliche Eigenart, ebenso wenig wie die Freude an schönen Dingen.
Sobald sie einen weiteren Patienten und mehr als zwei Solidi verdient hatte, würde sie zurückkommen und dieses Stück Seide kaufen.
Sie trat hinaus in den vom Meer heraufwehenden Wind. Die kühle Berührung der Seide hatte ihr die Vergangenheit mit einem Schlag ins Gedächtnis gerufen.
Gemessenen Schrittes ging sie die ansteigende schmale Straße empor. Es war eine der vielen, die man nach der Rückkehr der Bewohner aus dem Exil noch nicht wieder repariert hatte. Nach einer Weile musste sie einem Lastkarren ausweichen. Überall sah man zerstörte Mauern und fensterlose Häuser, die nach wie vor Brandspuren trugen. Die Trostlosigkeit der Umgebung ließ sie ihre Einsamkeit als besonders bedrückend empfinden.
Sie hatte gewusst, warum Ioustinianos nach Konstantinopel gegangen war, aber keine Möglichkeit gehabt, ihn daran zu hindern. In welche Wirren und leidenschaftliche Auseinandersetzungen mochte er geraten sein, dass man ihn des Mordes beschuldigte? Das musste sie unbedingt in Erfahrung bringen. Konnte es Liebe gewesen sein? Im Unterschied zu ihr war er in seiner Ehe glücklich gewesen.
Ein wenig hatte sie ihn darum beneidet, doch jetzt musste sie den schweren Kummer herunterschlucken, der ihr wie ein Kloß in der Kehle steckte. Sie würde alles geben, was sie besaß, wenn sie ihm damit erneut sein einstiges glückliches Leben ermöglichen könnte. Doch sie besaß nichts außer ihren medizinischen Fähigkeiten, und die hatten nicht genügt, seine Gemahlin Katharina zu retten. Ein Fieber hatte sie aufs Lager geworfen, und zwei Wochen später war sie ihm erlegen.
Anna hatte sich darüber gegrämt, weil auch sie Katharina gern gehabt hatte, doch für Ioustinianos war es gewesen, als hätte sie mit ihrem Dahinscheiden das Licht um ihn herum mit sich genommen. Anna hatte das miterlebt und unter seinen Qualen gelitten, als seien es ihre eigenen.
Doch nicht einmal die von frühester Kindheit an bestehende Nähe zwischen den Geschwistern hatte ihm über den Verlust hinweggeholfen.
Sie hatte gesehen, wie er sich veränderte. Es war, als verblutete er allmählich. Mit seinem Verstand hatte er nach Gründen gesucht, nach Antworten auf seine Fragen. Als wagte er nicht, in sein Herz zu blicken, hatte er seine Zuflucht zur Lehre der Kirche genommen, doch Gott hatte sich ihm entzogen.
Vor zwei Jahren schließlich hatte er an Katharinas Todestag erklärt, er werde nach Konstantinopel gehen. Anna hatte es nicht vermocht, in seinem Schmerz zu ihm vorzudringen, und hilflos zusehen müssen, wie er davonging.
Er hatte häufig geschrieben und ihr über alles berichtet, nur nicht über sich selbst. Dann war jener letzte entsetzliche Brief gekommen, den er in aller Eile verfasst hatte, bevor er in die Verbannung aufbrach. Danach war nichts mehr gewesen, nur noch Stille und Schweigen.
Anfang Juni, sie war inzwischen zweieinhalb Monate in der Stadt, suchte ein hochgewachsener, hagerer Mann mit asketischen Zügen sie auf. Er stellte sich ihr als Basilios vor und erklärte, dass er auf Pavlos’ Empfehlung hin komme.
Während sie sich im Behandlungszimmer nach seinem Gesundheitszustand erkundigte, musterte sie ihn aufmerksam. Sein Körper war sonderbar verkrampft, und sie kam zu dem Ergebnis, dass seine Schmerzen stärker sein mussten, als er zugab.
Sie bat ihn, Platz zu nehmen, doch er erklärte, er wolle lieber stehen bleiben. Daraus schloss sie, dass der Schmerz im Unterleib und in der Leistengegend sitzen musste und eine Veränderung der Haltung ihn verstärken
Weitere Kostenlose Bücher