Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
vielleicht schon im kommenden Jahr.
Am Fenster blieb sie stehen und sah in den dunklen Winterhimmel hinaus. Helena war in letzter Zeit auffällig hochnäsig gewesen. Mehrfach hatte Zoe in den Augen ihrer Tochter einen Blick erkannt, der sie zu verspotten schien. Es war ihr vorgekommen, als wolle sie ihr klarmachen, dass sie die Mutter für besiegt hielt. Zoe kam immer mehr zu der Überzeugung, dass Helena wusste, wer ihr Vater war, und beabsichtigte, sich dieses Wissen zunutze zu machen.
Vielleicht sollte sie Sabas den Auftrag erteilen, Helena genauer im Auge zu behalten. Es sah ganz so aus, als hätten sich ihre Gefühle für Dimitrios abgekühlt. Die Hinweise darauf waren kaum wahrnehmbar – sie schien sich eine Spur weniger aufreizend zu kleiden und gelegentlich abgelenkt zu sein, wenn er das Wort an sie richtete. Ob sie einen anderen hatte? Einen besseren Thronanwärter als Dimitrios gab es doch gar nicht!
Noch während sie sich diesen Überlegungen hingab, kam einer ihrer Diener herein und blieb vor ihr stehen, den Blick auf den Boden gerichtet.
»Was gibt es?«, fragte sie ihn. Welche Nachricht mochte den Mann dazu gebracht haben, so stumm und regungslos vor ihr zu stehen?
»Soeben ist die Mitteilung gekommen, dass der Doge Contarini vor einigen Wochen abgedankt hat«, gab er zurück. »Venedig hat einen neuen Dogen.«
»Selbstverständlich, Holzkopf«, fuhr sie ihn an. »Und wer ist das?«
»Giovanni Dandolo.« Seiner Stimme war die Nervosität anzuhören.
Mit Mühe unterdrückte sie einen Wutschrei und schickte den Diener hinaus. Er gehorchte mit unziemlicher Eile.
Jetzt herrschte also ein weiterer Dandolo im Dogenpalast. An ihn konnte sie nicht heran – wohl aber an Giuliano. Welche Beziehung mochte zwischen den beiden bestehen? Es spielte keine Rolle; auf jeden Fall war der alte Enrico Vorfahre beider, und das zählte, sonst nichts.
Möglicherweise würde man Giuliano bald nach Venedig zurückrufen, damit er dort einen höheren Posten übernahm. Sie musste ihre Rache also rasch verwirklichen, bevor ihr auch diese Gelegenheit entglitt.
Noch während sie darüber nachdachte, ließ sich ein alter Freund bei ihr melden. Er kam herein, bleich, mit angespannter Miene und ballte die Fäuste, während er herausbrachte : »Vielleicht möchtest du die Stadt verlassen, obwohl ich mir das nicht recht vorstellen kann. Dazu ist das Ende wohl zu nahe. Die Heere des Charles von Anjou belagern Berat.«
Die starke byzantinische Festung Berat in Albanien bewachte keine fünfhundert Meilen entfernt den Zugang zum Reich vom Westen her.
»Wenn Berat fällt«, fuhr er fort, »liegt Konstantinopel offen und unverteidigt vor ihnen. Der Kaiser verfügt über kein Heer, das einem Angriff zu Lande standhalten könnte – und auch nicht von See her, wenn die venezianische Flotte hier eintrifft.«
Ihr Inneres fühlte sich so kalt an, als seien seine Worte bereits Wirklichkeit.
»Zoe?«, fragte er.
Sie nahm die Botschaft so schweigend auf, wie die Dunkelheit der Nacht lautlos hereinbricht. Es gab nichts zu sagen.
Er bekreuzigte sich und ging.
Die Alpträume ihrer Kindheit kehrten wieder. Sie erwachte schweißgebadet allein in der Dunkelheit. Trotz der Kälte der Winternacht verzehrte eine Hitze, die bisher noch in ihren Träumen ruhte, ihren Körper. Wann würden der beißende Geruch von Rauch, das Krachen in sich zusammensinkender Gebäude und die Schreie von Menschen Wirklichkeit sein? Vor ihre Augen traten Bilder, die nie ganz in der Tiefe des Vergessens verschwunden waren: Ihre Mutter versuchte mit zerfetzten Kleidern, blutbedeckten Schenkeln und vor Angst verzerrtem Gesicht auf allen vieren zu ihrem Kind zu kriechen, um es zu schützen.
Als Zoe am nächsten Morgen aufstand, sah sie, dass allenthalben Menschen ihre Habseligkeiten packten, damit sie jederzeit aufbrechen konnten, falls die Nachrichten schlimmer wurden. Sie versammelten sich in kleinen Gruppen auf der Straße und hielten jeden Fremden an, um sich zu erkundigen, was es Neues gab.
Zoe packte Schmuck und Kunstwerke ein, Dinge von großer Schönheit, darunter ein geflügeltes Bronzepferd, goldene Halsketten, Schalen, Kannen, mit Edelsteinen besetzte Reliquiare, Dosen aus Alabaster und Email, um sie zu verkaufen.
Mit dem Erlös kaufte sie große Fässer voller Pech, die sie auf das Dach ihres Hauses schaffen ließ. Eher würde sie die Stadt mit eigener Hand niederbrennen und dafür sorgen, dass die Lateiner in den Flammen umkamen, als dass sie
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