Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
kreischte. Ein anderer Sizilianer ging gegen den Franzosen vor. Dieser fiel, Giuliano nahm dessen Schwert an sich, fuhr dann herum und fasste Tino am Arm.
»Komm mit!«, rief er und zog ihn mit sich. Er wollte Giuseppe, Maria und die anderen Kinder suchen, ohne dabei den Jungen in der Menge zu verlieren.
Auf dem ganzen Platz und in den umliegenden Straßen wurde inzwischen gekämpft. Einige Frauen schienen mit dem Dolch ebenso gut umgehen zu können wie die Männer. Eine ganze Reihe der den Sizilianern an Zahl bei weitem unterlegenen Franzosen lag schon am Boden, während andere wieder auf die Beine zu kommen versuchten. Die
Wut über die schon seit Generationen dauernde Unterdrückung, Willkür, Armut, Angst und Demütigung brach sich in diesem Aufstand der einfachen Menschen Bahn.
Giuliano hielt sich im Schatten und in engen Gassen. Das war zwar gefährlich, falls sich ihnen jemand in den Weg stellen sollte, aber der allgemeine Kampf auf dem Platz war schlimmer. Ein Stück weiter links ertönte der Ruf »Tod den Franzosen!«, und jemand forderte mit lauter Stimme die Männer von Palermo auf, sich zusammenzuschließen und endlich ihre Freiheit und Würde zurückzugewinnen.
Giuliano begann mit dem Jungen an der Hand zu laufen, so rasch er konnte. Nachdem sie die Gasse hinter sich hatten, gelangten sie in den stillen Hof eines Dominikanerklosters. Dort bot sich ein entsetzlicher Anblick. Ein Dutzend Sizilianer stand mit gezückten Dolchen vor zehn Mönchen.
»Sag ›ciceri‹ «, befahl einer von ihnen. Damit wollte er deren landsmannschaftliche Zugehörigkeit erkunden, denn ein Franzose konnte das Wort nicht richtig aussprechen.
Der erste Mönch gehorchte und durfte gehen, wobei er vor Angst fast über seine zerfetzte Kutte gestolpert wäre.
Der zweite geriet ins Stottern. Sogleich ertönte der Schrei ›Franzose!‹, und Giuliano konnte Tino gerade noch beiseitenehmen, bevor dem Mönch die Kehle aufgeschlitzt wurde, sein Blut nur so spritzte und er zu Boden stürzte.
Tino schrie vor Angst. Giuliano legte ihn sich über die Schulter und kehrte auf demselben Weg zurück, den sie gekommen waren. Nach einer Weile blieb er in einer schmalen Gasse stehen, um Atem zu schöpfen. Zwar hatte er gewollt, dass sich die Sizilianer erhoben, um das Joch der Unterdrückung abzuschütteln, doch hatte er sich dabei nie solch entsetzliche Gewalttaten vorgestellt. Hätte er auch
dann versucht, den Hass zu schüren, wenn ihm klar gewesen wäre, dass er so dicht unter der Oberfläche glomm?
Unbedingt, denn sonst hätte die Unterdrückung auf alle Zeiten fortgedauert, bis nichts mehr von ihnen übrig war. Dieser langsame Tod stand den Byzantinern bevor.
Er trug Tino den ganzen Weg bis zum Haus von dessen Eltern. Über und über mit Blut bedeckte Männer, denen ihre plötzliche Macht zu Kopf gestiegen war, ließen ihn durch, als sie das Kind sahen, und Giuliano schämte sich, dass er deshalb vor ihnen sicher war. Doch er blieb nirgendwo stehen, nicht einmal dann, wenn er Kampfeslärm, die Schreie von Frauen oder das Flehen von Männern hörte, die um Schonung baten. Er spürte, wie sich Tino mit seinen winzigen Fingern an ihn klammerte, und schritt weiter aus.
Als er endlich das Haus des Fischers erreicht hatte, war er erschöpft und zitterte am ganzen Leibe, nicht zuletzt, weil er fürchtete, dass seine Freunde nicht dort sein könnten.
Doch mit einem Mal öffnete sich die Tür. Maria kam heraus und stieß einen Freudenschrei aus, als er ihr Tino in die Arme legte.
Den Dolch in der Hand und bereit, seine Kinder für den Fall zu verteidigen, dass der Mann, der da herbeigeeilt kam, ein Feind war, stand Giuseppe neben ihr. Tränen liefen ihm über die Wangen, als er seinen Sohn sah, dem kein Haar gekrümmt worden war. Er ließ den Dolch fallen, eilte mit freudigem Lächeln auf Giuliano zu und umarmte ihn so heftig, dass seine Rippen knackten.
Maria forderte beide auf, ins Haus zu kommen, und Giuseppe verriegelte die Tür.
»Geh und sieh nach Gianni«, sagte Giuseppe. Als Maria den Raum verließ, erklärte er mit einem Blick auf Giuliano:
»Er ist verletzt. Sie darf ihn nicht allein lassen.« Nach dieser Erklärung ließ er seinen Blick lange auf Tino ruhen und strich ihm immer wieder über den Kopf, als wolle er sich vergewissern, dass er noch lebte und wirklich bei ihm war.
Kurz nach Tagesanbruch kam Angelo, einer der anderen Fischer. Er war ungewaschen und bewegte sich steif, als schmerzten ihn alle Glieder. Er hatte eine
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