Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
leise, dass sie es nur mit großer Mühe verstehen konnte: »Ich bin zum Judas geworden …«
Sie wusch ihm das Gesicht, die Hände und den Nacken. Sie befeuchtete seine ausgedörrten Lippen und bestrich seine Haut mit Salbe. Vielleicht konnte das seinen Schmerz eine Weile lindern. Auf jeden Fall wirkte er jetzt ruhiger.
Anschließend erhob sie sich und verließ den Raum, um sich Wasser geben zu lassen, mit dem sie sich das Blut und den Schmutz abwaschen wollte. Sie hatte am ganzen Leibe Schmerzen. Erst jetzt merkte sie, dass ihr linker Arm von oben bis unten blutig war und ihre Rippen bei jeder Bewegung schmerzten. Eine Seite ihres Gesichts war so stark angeschwollen, dass ein Auge fast geschlossen war, und auf dem Weg zur Tür fiel ihr auf, dass sie stark hinkte.
Eine halbe Stunde später ging sie wieder nach oben, um zu sehen, ob sie etwas für Konstantinos tun konnte, und sei es nur, dass sie sich zu ihm setzte, damit er nicht gänzlich allein war.
Sie verhielt den Schritt, als sie die Tür öffnete. Das Bett war leer. Sogar das Laken war verschwunden. Die Kerze brannte noch, doch die Flamme zuckte. Dann fiel ihr auf, dass das Fenster offen stand. Als sie hinging, um es zu schließen,
sah sie das um den Pfosten geknotete Ende eines Leintuchs. Sie beugte sich hinaus und blickte nach unten.
Etwa vier Fuß unter ihr hing Konstantinos, das Laken um den Hals, den Kopf zur Seite geneigt. Er konnte unmöglich noch leben. Seine letzten Worte kamen ihr in den Sinn, und sie dachte unwillkürlich an den Tod des Judas. Sie hätte es sich denken müssen.
Benommen stolperte sie zurück in den Raum. Ihr war übel. Sie setzte sich auf das Bett und blieb regungslos eine ganze Weile sitzen. Trug sie die Schuld daran? Hätte sie mehr tun müssen, um zu verhindern, dass sich Konstantinos auf dieses ›Wunder‹ einließ?
Von Anfang an hätte ihnen klar sein müssen, dass Vicenze darauf aus war, ihnen zu schaden. Palombara hatte das begriffen. Als sie an ihn dachte, beugte sie sich vor, vergrub das Gesicht in den Händen und weinte. Es erleichterte sie ein wenig, nach all dem Entsetzen und der Angst ihrem Kummer freien Lauf zu lassen.
Zu vieles hatte sie verloren. Bischof Konstantinos war auf eine Weise dahingegangen, die nichts als Seelenschmerz und Qualen zurückließ. Auch wenn sich das bei Bischof Palombara anders verhielt, empfand sie dessen Tod als Verlust; er würde ihr fehlen.
Später kehrte sie zum Haus Mocenigos zurück und versuchte Theresa zu trösten, so gut es ging. Nach Tagesanbruch traten die beiden hinaus auf die Straße, und Theresa bat diejenigen, die sich noch nicht zerstreut hatten, sich im Gedenken an ihren Mann ruhig und würdevoll zu verhalten. Mit Vicenze, erklärte sie, würde man nach dem Gesetz verfahren müssen. Zwar sei er unzweifelhaft schuldig, doch wenn sie ihn einfach töteten, würden sie damit ihre Seele beflecken.
Schließlich kehrte Anna nach Hause zurück, um ihre Verletzungen zu versorgen und sich ihrem seelischen Leid hinzugeben. Sie trauerte und litt unter der Einsamkeit, die nun alles einhüllte.
KAPİTEL 94
Im März 1282 ankerte die gewaltige Flotte des Charles von Anjou in der Bucht von Messina im Norden Siziliens. Als Giuliano von einem Hügel über dem Hafen seinen Blick über diese Zusammenballung militärischer Macht gleiten ließ, sank ihm das Herz. Die Zahl der dort zusammengezogenen Schiffe war riesig, und weitere wurden aus Venedig erwartet. Auf einem davon würde sich vielleicht Pietro Contarini befinden. Diese Möglichkeit hatte er bei ihrer letzten Begegnung angedeutet. Eine weitere würde es mit Sicherheit nicht geben, denn nie wieder würden sie einander als Freunde gegenübertreten. Das hatte Pietro unmissverständlich klargemacht. Für ihn stand Venedig unter allen Umständen an erster Stelle, was Giuliano für sich nicht mehr mit Sicherheit sagen konnte.
Jetzt sah er, wie die Schiffskommandanten den Anleger verließen und der Stadt entgegenschritten, wo Herbert von Orléans sie willkommen heißen würde. Diesem Stellvertreter des Königs und Gouverneur Siziliens diente die als ›Griechenschreck‹ bekannte mächtige Festung Mategriffon als Amtssitz. Vor seinem geistigen Auge sah Giuliano bereits, wie sich die Kreuzfahrer daranmachten, das Umland auszuplündern und den Bauern die Lebensmittelvorräte und das Vieh zu stehlen – alles, um im Namen Christi einen
Krieg führen zu können, mit dem sie das Geburtsland des Erlösers zurückerobern und erneut unter
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