Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Flotte des Feindes so nah ist, wird sich niemand darum kümmern. Kommt. Ich beschaffe Euch Frauenkleider und schreibe den Brief, während Ihr Euch umkleidet, damit der Kaiser ihn unterschreiben kann. Dann müsst Ihr gleich aufbrechen.« Er lächelte. »Ihr werdet mir fehlen.«
Sie berührte seine Hand. »Ihr mir auch. Ich habe niemanden, mit dem ich so sprechen kann, wie wir miteinander gesprochen haben.« Dann sah sie beiseite, weil sie fürchtete, in ihrer Einsamkeit ein zu laut hallendes Echo der seinen zu erkennen.
Es war ein sternklarer Sommerabend. Nikephoros begleitete sie zum Kai. Da um diese späte Stunde keine Fährboote mehr verkehrten, sollte eine kaiserliche Barke sie über das Goldene Horn nach Galata bringen. Es war das letzte Mal, dass sie ihren Fuß auf den Boden von Konstantinopel setzen würde. Sie war froh, dass es dunkel war, so dass Nikephoros ihre Bekümmernis nicht erkennen konnte, ihre Liebe zu allem, was jetzt zu Ende ging und demnächst zerstört würde.
»Ihr dürft nicht zurückkommen«, mahnte er. »Ich werde Euren Dienern eine Mitteilung schicken. Helenas Freunde
und Verbündete, Esaias und andere, von denen wir nichts wissen, vielleicht Dimitrios, werden Euer Haus nicht aus den Augen lassen, und deshalb empfehle ich, lasst Eure Diener noch einige Tage dortbleiben. In einer Hinsicht ist Helena wie ihre Mutter: ob Sieg oder Niederlage, Verzweiflung oder Triumph, sie hatte immer ihre Rache im Auge. Bei Euch ist das anders, und das hat Zoe für Schwäche gehalten. Es hat dafür gesorgt, dass Ihr nicht ganz und gar wart wie sie.«
Überrascht fragte sie: »Wie sie?«
»Sie hat in Euch ihre eigene leidenschaftliche Liebe zum Leben erkannt, in ihren Augen allerdings durch die Fähigkeit zu verzeihen geschwächt. Ich denke aber, sie hat zum Schluss begriffen, dass das in Wahrheit Eure Stärke ist. Sie macht Euch zu einem vollständigen Menschen, wie sie es nicht war.«
Das Bewusstsein, dieses Lob nicht verdient zu haben, bedrückte Anna. Sicherlich hatte sie vieles verziehen, Wichtiges und Unwichtiges. Aber die schlimmsten Kränkungen, die so sehr schmerzten, dass an Heilung nicht zu denken war, hatte sie nie verziehen. Ihrem Mann Eustathios hatte sie nicht vergeben, hatte ihren Abscheu verborgen, das Schuldbewusstsein, das sie empfunden hatte, weil sie ihn nicht lieben und ihm kein Kind schenken konnte, das schlechte Gewissen wegen der Begierde, die in ihr gebrannt hatte und nicht erwidert worden war. Stets hatte sie ihm die Schuld an der entsetzlichen Auseinandersetzung gegeben, die in Wahrheit sie selbst zwischen ihnen heraufbeschworen hatte. An die damit verbundene Schmach erinnerte sie sich sogar noch mehr als an die Schmerzen und das Blut.
Machte sie ihm Vorwürfe, weil er zugelassen hatte, dass
all das, die Enttäuschung, die hilflose Wut, das Gefühl der Ausweglosigkeit und der Niederlage, zur Gewalttätigkeit geführt hatte? Oder ging ihr Schuldgefühl darauf zurück, dass sie mehr oder weniger gewünscht hatte, er werde sich auf dieses Niveau begeben?
Ja, er hatte sich ihr gegenüber brutal verhalten, aber die schwere Last, die er auf seine Seele geladen hatte, konnte sie ihm jetzt nicht mehr abnehmen. Die Gelegenheit dazu war vorbei, und sie hatte sie nicht genutzt. Auch dafür war sie auf Vergebung angewiesen.
Sie versuchte sich in Erinnerung zu rufen, was an ihm gut gewesen war. Das fiel ihr schwer, bis sie darüber nachdachte, womit sie ihn verletzt hatte. Daraufhin empfand sie tiefes Mitgefühl, vermengt mit dem Bewusstsein, dass sie ihn hätte weniger abweisend behandeln sollen. Wenn sie ihm beigestanden hätte, statt wegen ihrer eigenen Verletzungen wild um sich zu schlagen, hätte er vielleicht das Gute in sich selbst entdeckt.
Ihr fiel ein, wie fabelhaft er mit Tieren hatte umgehen können, wie er mit seinen Pferden gesprochen und ganze Nächte bei ihnen gewacht hatte, wenn sie verletzt oder krank waren. Sie erinnerte sich an seine überschäumende Freude, wenn ein Fohlen zur Welt kam, und wie er dann die Stute gelobt und liebevoll getätschelt hatte. Sie merkte, wie in ihr erneut Tränen des Bedauerns darüber aufstiegen, dass ihm all das wegen ihrer Selbstsucht nach und nach entzogen worden war.
Sie ließ ihrer Wut auf sich selbst freien Lauf und senkte in der Dunkelheit den Kopf.
Es tut mir leid. Sie sagte sich das demütig und mit Nachdruck in Gedanken vor. Bitte verzeih mir, Gott. Hilf mir, innerlich vollständig zu werden, damit ich anderen die
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