Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Gnade
entgegenbringen kann, auf die ich selbst so verzweifelt angewiesen bin.
Allmählich spürte sie, wie die Last leichter wurde und die Absolution sich wie eine Umarmung um sie legte, alle alten Qualen linderte und hinwegspülte. Der Schmerz schwand, und eine angenehme Wärme füllte ihre innere Leere.
Sie und Nikephoros hatten jetzt das Ufer erreicht. Die Barke lag bereit und stieß bei jedem Wellenschlag sacht gegen die Stufen. Es war Zeit für den Abschied.
Es gab nichts mehr zu sagen. Sie trug wieder Frauenkleidung, zum ersten Mal seit rund zehn Jahren, wenn man von jenem Tag in Jerusalem absah, an dem sie sich von Giuliano verabschiedet hatte. Sie küsste Nikephoros auf die Wange. Nachdem er sie einen kurzen Augenblick lang fest an sich gedrückt hatte, entzog sie sich ihm und ging die Stufen hinab zur Barke.
Im Morgengrauen erreichte sie das ihr inzwischen wohlvertraute Haus Avram Schachars. Zwar war es viel zu früh, als dass sie annehmen durfte, jemand könne auf sein, doch wagte sie nicht, auf der staubigen Straße zu warten. Das war für eine unbegleitete Frau gefährlicher als für einen Eunuchen. Obwohl jetzt alle Bandagen und Polster abgenommen waren und ihr Körperumriss deutlich Brüste und Hüften zeigte, musste sie sich selbst immer wieder daran erinnern, dass sich ihr Aussehen grundlegend verändert hatte. Unter dem leichten Schleier, den zu tragen für eine Frau ein Gebot des Anstands war, war ihr leuchtend kastanienfarbenes Haar zu sehen.
Die Hitze war schon um diese frühe Stunde drückend und würde noch schlimmer werden, wenn die Sonne herauskam.
Sie klopfte an und wartete. Nach einer Weile klopfte sie erneut, und fast im selben Augenblick öffnete Schachar mit verschlafenen Augen.
»Ja?« Er musterte sie von Kopf bis Fuß, so freundlich wie immer. »Ist bei Euch jemand krank?«, erkundigte er sich. »Dann solltet Ihr besser hereinkommen.« Er tat einen Schritt zurück und öffnete ihr die Tür weit.
Sie folgte ihm in seine Kräuterkammer und bemühte sich, leise aufzutreten, um niemanden im Hause aufzuwecken.
Er zündete eine Kerze an und sah sie erneut aufmerksam an, als sei ihm bewusst, dass er sie kennen müsse, ohne dass ihm ihr Name einfiel, was ihm offensichtlich peinlich war.
»Anna Zarides«, sagte sie leise.
Verblüfft weiteten sich seine Augen, als er begriff, wer sie war. »Was ist geschehen? Was kann ich für Euch tun?«
»Ich habe vom Kaiser die Begnadigung für meinen Bruder erwirkt«, sagte sie. »Ich muss zum Sinai, bevor Konstantinopel fällt, damit ich ihn aus dem Kloster, in dem er eingekerkert ist, herausholen kann, solange dort das Wort unseres Kaisers noch etwas gilt. Könnt Ihr mir helfen? Ich muss unbedingt meinen Dienern Leo und Simonis eine Mitteilung zukommen lassen, damit sie mit so viel Geld herkommen, wie ich aufbringen kann. Ich wage nicht, in die Stadt zurückzukehren, und weiß nicht, wie ich ihnen die Mitteilung zukommen lassen soll.«
Er nickte bedächtig und lächelte.
»Auch muss ich zusehen, dass für sie gesorgt wird. Leo kann mich begleiten, aber Simonis soll nach Nikaia zurückkehren. «
»Natürlich«, sagte er leise. »Natürlich. Darum kümmere ich mich. Zuerst aber müsst Ihr essen und ein wenig ruhen.«
KAPİTEL 97
Giuliano hatte Sizilien in aller Eile verlassen, da ihm klar war, dass Charles Häscher nach ihm ausschicken und ihn hinrichten lassen würde, falls man ihn zu fassen bekam. Er hatte das erste Schiff genommen, das die Insel verließ, und sich auf den Weg nach Osten gemacht. In Athen und Abydos am Hellespont hatte er sich nur so lange aufgehalten wie nötig, um auf ein Schiff nach Konstantinopel zu wechseln. Es war früher Morgen, als er dort ankam. Nachdem er sich gewaschen und rasiert hatte, ging er sogleich an Land. An Kleidung hatte er lediglich mit, was er am Leibe getragen hatte, als er in der Bucht von Messina die Flotte in Brand setzte, und das wenige, was er in aller Eile in Athen kaufen konnte.
Durch schmale Gassen stieg er vom Hafen zum Kaiserpalast empor. Bedrückt nahm er die Atmosphäre der Angst und die unnatürliche Stille wahr, die über der Stadt lag. Überall sah er leere Geschäfte und Häuser, ein Hinweis darauf, dass viele Menschen schon geflohen waren. Man konnte glauben, die Stadt liege bereits im Sterben.
Am Palast vertrat ihm die Waräger-Wache den Weg. Diese verwegenen Burschen würden dem Feind unter keinen Umständen den Rücken zukehren und auf ihrem Posten bleiben, bis man sie in
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