Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
sich und ging in Wind und Sonne davon, während sich die Gedanken in seinem Kopf so sehr jagten und drängten, dass er zu keinem klaren Ergebnis gelangte.
Anfang Januar suchte Palombara, dem es gelungen war, sich im Hinblick auf die bevorstehende Unterzeichnung des Abkommens zur Zusammenarbeit mit Vicenze zu zwingen, ein Speiselokal auf.
Mit voller Absicht setzte er sich möglichst nahe an einen Tisch, an dem sich zwei Männer in mittleren Jahren über das Lieblingsthema der Byzantiner in den Haaren lagen: die Religion.
Als einer von ihnen merkte, dass Palombara ihrem Streitgespräch zuhörte, bezog er ihn sogleich mit ein und fragte ihn nach seiner Meinung. »Ja«, drängte auch der andere. »Was haltet Ihr davon?«
Nach kurzem Überlegen antwortete Palombara mit einem Zitat aus den Schriften des brillanten Theologen und Kirchenlehrers Thomas von Aquin, der auf dem Weg zum Konzil von Lyon gestorben war.
»Ah!«, sagte der Erste rasch. »Der doctor angelicus ! Sehr gut. Stimmt Ihr mir zu, wenn ich sage, dass seine Entscheidung richtig war, sein bedeutendstes Werk, die Summa Theologica , nicht weiterzuführen?«
Palombara war verblüfft. Er zögerte.
»Gut«, sagte der Mann mit strahlendem Lächeln. »Ihr wisst es nicht. Das ist der erste Schritt auf dem Weg zur Weisheit. Hat er nicht selbst gesagt, dass alle seine Schriften wie Stroh seien, verglichen mit dem, was er in einer Vision gesehen hatte?«
»Albertus Magnus, der ihn gut kannte, denn er war sein Lehrer, hat gesagt, die Werke des Aquiners würden die Welt füllen«, warf der andere ein. Dann wandte er sich Palombara zu. »Er stammte aus Italien, Gott sei seiner Seele gnädig. Habt Ihr ihn gekannt?«
Palombara erinnerte sich, ihm einmal begegnet zu sein: ein nicht besonders hellhäutiger, kräftiger, massiger Mann von ausgesuchter Höflichkeit. Man musste ihn einfach mögen. »Ja«, gab er zurück und beschrieb seine Begegnung mit ihm und was er dabei gesagt hatte.
Der Zweite hielt sich daran fest, als habe er einen Schatz entdeckt, und beide griffen die vorgetragenen Gedanken geradezu begeistert auf. Unvermittelt kamen sie dann auf Franz von Assisi und dessen Weigerung zu sprechen, sich zum Priester weihen zu lassen. War das gut oder schlecht, Hochmut oder Bescheidenheit?
Palombara war begeistert. Das freie Hin und Her der Gedanken kam ihm vor wie der Wind, der mächtig und ungezügelt vom Meer herüberwehte. Zwar brachte er Gefahren mit sich, doch zugleich gab er den Blick auf einen endlosen Horizont frei. Erst als Vicenze unerwartet zu ihnen stieß, merkte er mit einem Mal, wie weit er sich von der herrschenden Lehrmeinung entfernt hatte.
Nachdem sich Vicenze das Gespräch eine Weile angehört hatte, fiel er den dreien in geradezu flegelhafter Weise ins Wort, erklärte, er habe Nachrichten, die keinen Aufschub duldeten, weshalb Palombara sogleich mitkommen müsse. Da es sich bei den beiden Männern um eine Zufallsbekanntschaft handelte, blieb diesem keine Wahl, als das Gespräch abrupt zu beenden und mitzugehen. Er bat zögernd um Entschuldigung und trat mutlos und voll Wut auf Vicenze hinaus auf die Straße. Überrascht stellte er fest, dass er eine gewisse innere Leere empfand.
»Was ist so dringend?«, fragte er kalt. Ihn ärgerte nicht nur die Unterbrechung, sondern auch die aufgeblasene Art, mit der Vicenze aufgetreten war, und dessen unübersehbare Missbilligung.
»Der Kaiser hat uns rufen lassen«, teilte ihm Vicenze mit. »Ich habe das eingefädelt, während Ihr Dispute mit diesen Gottesleugnern geführt habt. Vergesst nicht: Ihr dient dem Papst.«
»Eigentlich war ich der Ansicht, dass ich Gott diene.«
»Das hatte ich von Euch bisher ebenfalls angenommen«, gab Vicenze zurück. »Aber inzwischen bin ich mir dessen nicht mehr sicher.«
Palombara wechselte das Thema. »Was wünscht der Kaiser von uns?«
» Wenn ich das wüsste, hätte ich es Euch gesagt«, knurrte Vicenze.
Palombara bezweifelte das, hielt es aber nicht für der Mühe wert, darüber zu streiten.
Die Audienz fand im Kaiserpalast statt. Es kam Palombara, der das eine oder andere über dessen Geschichte erfahren hatte, so vor, als durchwehe der Ruhm der Vergangenheit die Räume gleich Geistern, die in der grauen Gegenwart verloren wirkten.
Die Wände aller Räume, durch die man sie führte, waren in früheren Zeiten mit herrlichen Einlegearbeiten in Porphyr und Alabaster sowie mit Ikonen geschmückt gewesen, und in allen Nischen hatten Standbilder oder
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