Die Dunklen Wasser Des Todes: Roman
Ehrgeizes König von Neapel, nicht aber durch seine Geburt. Entsprechendes gilt auch für seine Herrschaft über Sizilien. Sofern die Gerüchte stimmen, lieben ihn die Menschen dort nicht.«
Das hatte auch Giuliano gehört. »Und das wird sich Kaiser Michael zunutze machen?«, fragte er.
» Würdest du das an seiner Stelle nicht tun?«, stellte Tiepolo die Gegenfrage.
»Doch.«
»Geh nach Neapel und sieh dir seine Flotte mit eigenen Augen an. Stell fest, wie viele Schiffe er hat, wie groß sie sind. Erkundige dich, wann er abzusegeln gedenkt. Sprich mit ihm über Preise und günstige Kaufgelegenheiten. Wenn wir für ihn eine Flotte bauen sollen, brauchen wir deutlich mehr gutes Hartholz, als wir haben. Bring aber auch in Erfahrung, was der Mann auf der Straße denkt.« Tiepolo senkte die Stimme. »Was sagen die Leute, wenn sie hungrig sind oder Angst haben? Worüber reden sie, wenn der Wein ihre Zunge gelockert hat? Achte auf Unruhestifter. Erkunde ihre Stärken und Schwächen. Danach begib dich nach Sizilien und tu dort dasselbe. Such nach der Armut, der Unzufriedenheit, der Liebe und dem Hass, der sicherlich unter der Oberfläche brodelt.«
Giuliano hätte sich denken können, was Tiepolo von ihm erwartete. Als Sohn eines Kaufmanns, der den Handel im ganzen Mittelmeergebiet kannte, und erfahrener Seemann, der ein Schiff befehligen konnte, eignete er sich in idealer Weise für diese Aufgabe, zumal er in seinen Adern das Blut einer der bedeutendsten Familien Venedigs hatte und deren Namen trug, auch wenn er deren Reichtum nicht geerbt hatte. Der Doge Enrico Dandolo, der im Jahre 1204 den Kreuzzug angeführt und Konstantinopel erobert hatte, war sein Urgroßvater gewesen. Nachdem man Venedig um die ihm zustehende Bezahlung für die Schiffe und Vorräte hatte prellen wollen, hatte er zum Ausgleich dafür die bedeutendsten Kunstschätze Konstantinopels in seine Heimatstadt mitgenommen.
Tiepolo lächelte jetzt unverhüllt. Das Weinglas blitzte in
seiner Hand. »Und von Sizilien fahr weiter nach Konstantinopel«, fuhr er fort. »Sieh dich auch dort um, kundschafte aus, ob man die Verteidigungsanlagen instand setzt, vor allem aber halte dich im venezianischen Viertel unten am Goldenen Horn auf. Stell fest, wie wohlhabend die Menschen dort sind und wie sie sich zu verhalten gedenken, falls Charles mit venezianischen Schiffen angreift. Auf welcher Seite liegt ihr Interesse, ihre Treue? Sie sind zwar ihrer Herkunft nach Venezianer, aber inzwischen wohl auch zum Teil Byzantiner. Wie tief reichen ihre Wurzeln? All das muss ich unbedingt wissen, Giuliano. Für diese Aufgabe hast du allerdings nur vier Monate Zeit. Mehr kann ich dir nicht gewähren.«
»Ich werde tun, was Ihr verlangt«, erwiderte ihm Giuliano geflissentlich.
»Gut.« Tiepolo nickte. »Ich werde dafür sorgen, dass du alles bekommst, was du brauchst: Geld, ein gutes Schiff, Fracht, damit du einen Vorwand und einen Grund für die Reise hast, und Männer, die dir gehorchen und denen du deinen Handel anvertrauen kannst, während du an Land bist. Übermorgen brichst du auf. Jetzt trink deinen Wein. Er ist köstlich.« Er hob sein Glas höher, gleichsam als Beweis dafür, dass das Lob gerechtfertigt war, und setzte es an den Mund.
Für den folgenden Tag verabredete sich Giuliano mit seinem engsten Freund Pietro Contarini zum Abendessen. Er genoss den Geschmack des Weines und der Speisen, als sehe er voraus, dass er in den nächsten Monaten würde darben müssen. Sie lachten über alte Späße und sangen Lieder, die sie seit Jahren kannten. Sie waren miteinander aufgewachsen, hatten den gleichen Unterricht genossen, gemeinsam
die Freuden von Wein und Frauen kennengelernt, aber auch allerlei Missgeschick miteinander geteilt.
Sie hatten sich im selben Monat zum ersten Mal verliebt, einander die Zweifel, Schmerzen, Siege und schließlich die Qual der Zurückweisung mitgeteilt. Dann hatten sie begriffen, dass sie dasselbe Mädchen verehrten, und wie wilde Hunde miteinander gekämpft, bis Blut floss – das Giulianos. Danach war ihnen sogleich die Freundschaft wichtiger gewesen, und sie hatten miteinander gelacht. Seither hatte keine Frau mehr zwischen ihnen gestanden.
Pietro war seit einigen Jahren verheiratet und hatte zwei Töchter sowie einen Sohn, auf den er unbändig stolz war. Doch trotz der häuslichen Pflichten hatte er nach wie vor ein Auge für hübsche Frauen und Lust am Abenteuer.
Jetzt saßen sie inmitten von Gelächter und Gläserklirren, dem
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