Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
bei seiner Übung. Seufzend zog er das Ding heraus und hielt es sich ans Ohr. »Logan«, sagte er ohne jede Begeisterung.
»DS McRae? Hier spricht Alice Kelly. Wir haben uns gestern kennen gelernt, Sie erinnern sich? In dem sicheren Haus, in dem wir auf Mr. Philips aufpassen sollten?«
Plötzlich tauchte vor Logans geistigem Auge das Bild einer übergewichtigen Polizistin in unvorteilhaften Zivilklamotten mit zu vielen Ringen an den Fingern auf. »Hallo …« Er hielt inne und setzte sich auf. »Wie meinen Sie das – ›aufpassen sollten ‹? Wo ist er?«
»Tja, wissen Sie, das ist es ja eben.« Verlegene Pause. »DC Harris ist zum Laden gegangen, um einen Karton Milch und ein paar Chips zu kaufen, während ich unter der Dusche war …«
»Sagen Sie nicht, Sie haben ihn verloren!«
»Nein, das kann man so nicht sagen. Er ist sicher nur ein bisschen spazieren gegangen. Sobald es dunkel wird, kommt er bestimmt zurück …«
Logan sah auf seine Uhr. Es war fünfzehn Uhr dreißig. Es war bereits dunkel. »Haben Sie nach ihm gesucht?«
»DC Harris ist gerade draußen unterwegs. Ich bin hier geblieben, für den Fall, dass er zurückkommt.«
Logan ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte knallen.
»Hallo? Hallo? Stimmt irgendwas nicht?«
»Er kommt nicht mehr zurück,« stieß Logan zähneknirschend hervor. »Haben Sie der Zentrale gemeldet, dass er vermisst wird?«
Die nächste verlegene Pause.
»Großer Gott«, sagte Logan. »Ich gebe dort Bescheid.«
»Was soll ich denn jetzt tun?«
Aber Logan war ein Gentleman und sagte es ihr nicht.
Zehn Minuten später wusste jede Streifenwagenbesatzung in Aberdeen, dass sie die Augen nach einem umherirrenden Roadkill offen halten sollten. Nicht, dass Logan hellseherische Fähigkeiten gebraucht hätte, um zu wissen, wohin er sich wenden würde. Er würde schnurstracks zu seinem Hof zurückgehen, zu seinen toten Geschöpfen.
Es war ein ziemlicher Fußmarsch von Summerhill nach Cults, besonders bei dem heftigen Schneefall, doch Roadkill war es gewohnt, lange Strecken zu Fuß zu gehen. Sein eigenes kleines Leichenschauhaus auf Rädern vor sich her schiebend, hatte er die Straßen und Gassen der Stadt abgeklappert. Und unterwegs die toten Tiere aufgesammelt.
Aber so weit kam Bernard Duncan Philips nicht mehr. Dreieinhalb Stunden später wurde er in Hazlehead Woods gefunden, wo er in einer langsam zufrierenden Blutlache lag.
Der Wald war eine schwarz-weiße Märchenkulisse; alte, knorrige Bäume mit einem Zuckerguss aus Eis und Schnee. Ein einspuriger Fahrweg schlängelte sich mitten durch den Park, über den Logan nun seinen Zivilwagen steuerte, schön langsam, damit er nicht ins Schleudern kam und gegen einen Baum knallte.
Nachdem er ungefähr zweieinhalb Kilometer durch den Wald gefahren war, kam er zu einem ungeteerten Parkplatz; eigentlich nur eine Lichtung, wo die Erde – jetzt unter einer Schneedecke verborgen – im Lauf der Jahre und Jahrzehnte festgewalzt worden war. Eine einzelne große Buche stand in der Mitte, in voller winterlicher Pracht, und ringsumher liefen Polizisten durch den Schnee, scheinbar ohne Ziel und Plan. Ihr Atem stieg in weißen Wolken in die bitterkalte Luft auf. Die Ärmsten froren sich den Arsch ab.
Logan parkte neben dem verdreckten Van der Spurensicherung, stellte den Motor ab und wagte sich hinaus in den rutschigen, fest getrampelten Schnee. Die kalte Luft war wie ein Schlag ins Gesicht. Schlotternd stapfte er zum Zelt der Spurensicherung und hoffte inständig, dass es da drin wärmer sein würde. War es nicht. Ausgehend von einer tiefen, dunkelroten Lache in der Mitte des Zelts, auf deren Oberfläche schon Eiskristalle glitzerten, verteilten sich Spritzer in alle Richtungen. Überall Fußspuren, und quer über die Blutlache eine Vertiefung mit den Umrissen einer menschlichen Gestalt. Roadkill hatte auf der Seite gelegen. Hier war er im Schnee verblutet.
Logan schnappte sich den Fotografen. Es war Billy, der haarlose FC-Aberdeen-Fan, der die Fotos auf der Müllkippe geschossen hatte. Er trug wieder seine rot-weiße Pudelmütze.
»Wo ist er?«
»In der Notaufnahme.«
»Was?«
»Er ist nicht tot.« Der Fotograf blickte auf die dunkelrote Lache hinunter und sah dann Logan an. »Jedenfalls noch nicht.«
Und so landete Logan zum zweiten Mal an diesem Tag in der Aberdeen Royal Infirmary. Bernard Duncan Philips war mit einer Schädelfraktur, gebrochenen Rippen, gebrochenen Armen, einem gebrochenen Bein, gebrochenen Fingern sowie
Weitere Kostenlose Bücher