Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
die x-te Tasse Tee. Leise vor sich hin brummelnd ließ sie sich auf die Couch sinken. Auf dem Bildschirm flimmerte ein Standbild aus dem Vorspann von Emmerdale . Wie nett von den beiden, dass sie gewartet hatten, bis sie vom Pinkeln zurück war. »Komm schon, Rennie!«, rief sie in Richtung Küchentür. »Was brauchst du denn so lange? Teebeutel, Wasser, Milch. Ist das denn so schwer?« Sie ließ sich in die Sofakissen sinken und starrte finster auf den Fernsehschirm. »Herrgott noch mal!« Sie raffte sich auf und stürmte in die Küche. »Bist du denn nicht mal in der Lage, eine Tasse …«
In diesem Moment sah sie die Gestalt, die ausgestreckt auf dem Linoleumboden lag.
Es war Constable Rennie.
»Scheiße!« Sie griff nach dem Funkgerät an ihrer Schulter. Und dann explodierte ein grellgelbes Feuerwerk vor ihren Augen, bevor alles um sie herum schwarz wurde.
Sie konnte nicht lange bewusstlos gewesen sein. Das verriet ihr die Uhr am Herd. Nur fünf Minuten. Stöhnend versuchte sie sich aufzusetzen, aber irgendetwas stimmte nicht mit ihren Armen und Beinen. Die Küche begann sich um ihren Kopf zu drehen, und sie sackte wieder zu Boden.
Wenn sie die Augen schloss, wurde es nur noch schlimmer. Sie hatte einen ekligen, metallischen Geschmack im Mund, aber sie konnte nicht ausspucken. Jemand hatte einen Lappen verknotet und ihn ihr in den Mund gesteckt. Und dieser Jemand hatte ihr auch die Hände hinter den Rücken gebunden und ihre Fußgelenke gefesselt.
Sie wälzte sich auf den Rücken, worauf das Zimmer wieder zu rotieren begann. Sie wartete einen Moment, bis es sich beruhigt hatte, und vollendete dann die Drehung, bis sie so lag, dass sie das Wohnzimmer im Rücken hatte und in Richtung Hintertür blickte.
Constable Rennie lag flach auf dem Bauch. Er war bleich im Gesicht, und seine Züge waren erschlafft. Sie sah, dass er ebenso gefesselt war wie sie selbst, und sein dunkles Haar schimmerte rötlich und feucht im Schein der Küchenlampe – Blut.
Von oben kam das Geräusch der Toilettenspülung. Einmal, zweimal.
Sie wälzte sich wieder herum. Diesmal dauerte es nicht so lange, bis die Welt von dem Versuch abließ, ihr den Kopf vom Hals zu schrauben.
Wieder die Toilettenspülung. Klack, klack, klack.
Neben dem Mülleimer stand eine Reisetasche. Eine große Reisetasche. Die Nähte waren mit Schnee verkrustet.
Constable Jackie Watson versuchte, die Sendetaste ihres Funkgeräts mit dem Kinn niederzudrücken. Es steckte noch im Schulterholster, doch so sehr sie sich auch verrenkte, sie konnte einfach nicht den nötigen Halt finden.
Und dann kamen plötzlich zwei Beine in die Küche. Sie steckten in dicken Strümpfen und einem schweren Wollrock, und hinter ihnen konnte sie durch die offene Tür den dunklen Flur sehen. Watson hob den Kopf und blickte in Mrs. Strichens Gesicht. Die Augen der alten Frau waren weit aufgerissen und weiß, und das schlaffe O ihrer Lippen bewegte sich stumm, als sie die gefesselten Gestalten auf ihrem Küchenboden anstarrte. Sie fuhr herum und stemmte die Hände in die Hüften. »Martin! Martin!« Ihre Stimme war wie das Brüllen eines wütenden Nashorns. »Was hast du denn da wieder angestellt, du dreckiger kleiner Mistkerl?«
Ein Schatten fiel auf die Frau.
Vom Fußboden aus konnte Watson nur ein kleines Stück des grobknochigen Mannes sehen, der da in der Tür stand und mit seinen riesigen Händen in der Luft herumfuchtelte. Wie ein Vogel in einem Netz.
»Mama …«
»Komm mir jetzt nicht mit ›Mama‹, du kleiner Mistkerl! Was zum Teufel hat das da zu bedeuten?« Sie zeigte auf die beiden gefesselten Polizisten.
»Ich weiß nicht …«
»Du hast wieder an kleinen Jungs rumgefummelt. Gib’s doch zu!« Sie piekste ihn mit ihrem knochigen Zeigefinger fest in die Brust. »Und mir die Bullen ins Haus gebracht! Du machst mich echt krank! Wenn dein Vater noch am Leben wäre, der würde dich verdreschen, dass dir Hören und Sehen vergeht, du miese, perverse kleine Heulsuse!«
»Mama, ich …«
»Ein mieser Schmarotzer, das bist du von Anfang an gewesen! Ein schleimiger, zappelnder Blutegel an meiner Brust!«
Er trat einen Schritt zurück. »Mama, nicht …«
»Ich hab dich nie gewollt! Du warst ein Irrtum! Ein elender, beschissener, gottverdammter Irrtum!«
Watson konnte sehen, wie die Beine sich bewegten, als Martin Strichen seiner Mutter den Rücken zukehrte. Wie er in Richtung Wohnzimmer davoneilte. Aber Mrs. Strichen war noch nicht fertig mit ihm. Sie setzte ihm nach,
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