Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
wurde, war es mit hoher Wahrscheinlichkeit tot. Genau wie der vierjährige David Reid oder das unbekannte Mädchen, das in einem Kühlfach im Leichenschauhaus lag, mit einer großen T-förmigen Narbe, die sich über die ganze Länge ihres Rumpfes zog, die unübersehbare Spur der Obduktion, bei der ihre kompletten Eingeweide herausgenommen, untersucht, gewogen, zerschnitten, in Glasbehälter gefüllt, etikettiert und ins Labor geschickt worden waren.
Das erste Drittel des Abends hatten sie mit ernsthaften Gesprächen über tote und vermisste Kinder zugebracht; im zweiten hatten sie hauptsächlich über die Interne Dienstaufsicht geschimpft, die wegen des Durchsickerns vertraulicher Informationen an die Presse ermittelte. Die Namensänderung – früher war es die »Abteilung für Beschwerden und Disziplinarangelegenheiten« gewesen – hatte die Stelle bei den Kollegen auch nicht beliebter gemacht.
Das letzte Drittel brachten sie damit zu, sich nach allen Regeln der Kunst zu betrinken.
Einer der Constables – Logan hatte seinen Namen vergessen – kam mit einer neuen Runde Bier an ihren Tisch geschlurft. Er hatte jenes Stadium der Trunkenheit erreicht, in dem man alles extrem komisch findet, und er kicherte hemmungslos, als er ein kleines Glas Lager umkippte und der Inhalt sich über den Tisch sowie die Hose eines bärtigen Kollegen von der Kripo ergoss.
Logan hatte nicht die Absicht, heute Abend den verantwortungsbewussten Erwachsenen zu spielen, und so nahm er sein Glas und schlenderte mit etwas unsteten Schritten zu den Spielautomaten.
Eine Gruppe von Polizisten drängte sich kreischend und johlend um einen Quizautomaten, doch Logan ging an ihnen vorbei, ohne sie zu beachten.
Constable Watson stand allein an einem einarmigen Banditen und hämmerte auf die Tasten ein. Die Front des Automaten war ein einziges Meer von wirbelnden, blinkenden Lichtern, die unter permanentem Gedudel und Geklingel kreisten und flackerten. In der einen Hand hielt Watson eine halb ausgetrunkene Flasche Budweiser, während sie mit der anderen die aufleuchtenden Tasten bearbeitete und die Walzen ein ums andere Mal rotieren ließ.
»Na, kein Glück heute?«, meinte Logan, als zwei Zitronen und ein Turm auf dem Display auftauchten.
Sie drehte sich nicht einmal um. »Nicht genug Beweise!« Watson hackte auf die Risikotaste ein, was ihr einen Anker einbrachte.
»Müssen wir halt weitersuchen«, meinte Logan, nahm noch einen kräftigen Schluck aus seinem Glas und genoss das warme, schwurbelige Gefühl, das sich allmählich in seinem Kopf ausbreitete. »Die Spusis haben in der Wohnung nichts finden können …«
»Die Spusis würden noch nicht mal in einer Klärgrube Scheiße finden. Was ist mit dem verdammten Kassenbon?« Sie steckte noch zwei Pfundmünzen in den Schlitz und ließ die Faust auf die Starttaste niedersausen.
Logan zuckte die Achseln, während Watson mit finsterer Miene das Resultat anstarrte: Anker, Zitrone, Goldbarren.
»Wir wissen alle, dass er schuldig ist!«, sagte sie und ließ die Walzen aufs Neue rotieren.
»Und jetzt müssen wir es nur noch beweisen. Aber ohne Sie hätten wir ihn noch nicht mal in Untersuchungshaft.« Logan hatte ein wenig Schwierigkeiten mit dem Wort »Untersuchungshaft«, was Constable Watson jedoch nicht zu registrieren schien. Er beugte sich vor und gab ihr einen sanften Klaps auf die Schulter. »Das mit dem Kassenbon war große Klasse!«
Er hätte schwören können, dass er den Ansatz eines Lächelns auf ihren Lippen sah, als sie die nächste Münze in den Schlitz steckte.
»Ich habe die Punkte für die Kundenkarte übersehen. Die haben Sie entdeckt.« Sie fixierte weiter die flackernden Lichter.
»Aber ich hätte die Punkte nicht entdecken können, wenn Sie nicht zuerst den Bon gefunden hätten.« Er grinste sie an und nahm noch einen Schluck.
Jetzt wandte sie den Blick von dem bunten Lichtermeer des Automaten ab und sah ihn an, wie er vor ihr stand und leicht schwankte, beinahe im Takt der Musik. »Wie war das noch mal – ›vier Mal am Tag eine Tablette, nicht mit Alkohol einnehmen‹?«
Logan zwinkerte ihr zu. »Wenn Sie’s nicht verraten – ich tu’s bestimmt nicht.«
Sie lächelte ihn an. »Auf Sie aufpassen ist ein Fulltime-Job, was?«
Logan stieß mit seinem Pintglas an ihre Bierflasche. »Darauf trinke ich.«
10
Sechs Uhr früh. Das hartnäckige Piepsen des Weckers riss Logan aus dem Schlaf, der nahtlos in einen mörderischen Kater überging. Er hockte
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