Die dunklen Wasser von Aberdeen: Roman (German Edition)
Horizont zu Horizont aus und ließen keinen Funken Tageslicht durch, tauchten die Stadt um zwei Uhr nachmittags in finstere Nacht. Flackernd schalteten sich die Straßenlaternen ein, an denen sie vorbeifuhren, und ihr gelbes Licht ließ die Dunkelheit noch dunkler erscheinen.
Insch hatte natürlich Recht: Sie würden die vermissten Kinder nicht lebend finden. Nicht, wenn es derselbe Täter war, der sie entführt hatte. Laut Isobel hatten die Missbrauchshandlungen alle nach Eintritt des Todes stattgefunden.
Logan fuhr wie in Trance den Anderson Drive entlang.
Wenigstens hatte Peter Lumley vorher noch ein bisschen was vom Leben gehabt. Richard Erskine, dieses arme Würstchen, hatte dagegen nur eine gluckenhafte Mutter gehabt. Irgendwie konnte Logan sich nicht vorstellen, dass sie mit Richard nach Korfu, Malta oder Florida fliegen würde. Viel zu gefährlich für ihren kleinen Schatz. Peter dagegen konnte froh sein, dass er so einen netten Stiefvater hatte, der sich um ihn kümmerte …
»Hat die Inquisition schon bei Ihnen vorbeigeschaut?«, fragte Insch, als Logan den Wagen durch den Kreisverkehr am Ende der Queen Street steuerte. In der Mitte thronte eine mächtige Statue von Königin Victoria auf einem dicken Granitsockel. Irgendwer hatte ihr ein Baustellenhütchen aufs Haupt gestülpt.
»Die Dienstaufsicht? Nein, noch nicht.« Dieses Vergnügen stand ihm noch bevor.
Insch seufzte. »Bei mir waren sie heute Morgen. Irgend so ein Karriere-Arschloch in einem schicken neuen Anzug, das in seinem ganzen Leben noch keinen Tag anständige Polizeiarbeit geleistet hat, quatscht mir die Ohren voll, wie wichtig es sei, herauszufinden, wer der Presse die Geschichte zugespielt hat. Als ob ich das nicht selber rausfinden könnte. Ich sag’s Ihnen, wenn ich den erwische …«
Ein schmutziger Ford-Van schoss direkt vor ihnen aus einer Parklücke. Logan stieg voll auf die Bremse und fluchte.
»Den kaufen wir uns!«, rief Insch triumphierend. Jemand anderem den Tag zu verderben, würde ihre Stimmung vielleicht ein klein wenig aufhellen.
Sie nahmen die Fahrerin streng ins Gebet und forderten sie auf, am nächsten Morgen um Punkt neun Uhr mit sämtlichen Papieren auf dem Präsidium zu erscheinen. Es war nicht viel, aber immerhin etwas.
Als sie ins Präsidium zurückkamen, fanden sie die Soko-Zentrale in Aufruhr. Die Telefone klingelten ununterbrochen, nachdem über Northsound Radio und die Mittagsnachrichten im Fernsehen ein Aufruf an die Bevölkerung ergangen war. Alle großen Sender berichteten über den Fall. Aberdeen rückte in den Mittelpunkt des Medieninteresses; die gesamte Polizeitruppe fand sich schlagartig im Rampenlicht. Und wenn Insch die Geschichte nicht sehr bald aufklärte, würde sein Kopf der erste sein, der rollte.
Sie verbrachten einige Zeit damit, die Meldungen von diversen Augenzeugen durchzulesen, die einen der vermissten Jungen gesehen zu haben glaubten. Die meisten konnte man höchstwahrscheinlich vergessen, aber dennoch mussten sie, um sicherzugehen, jedem einzelnen Bericht nachgehen. Eine der technischen Expertinnen der Abteilung führte alle Berichte im Computer zusammen. Sämtliche Sichtungen, sämtliche Befragungen, einschließlich Angaben zu Ort, Uhrzeit und Datum wurden in HOLMES eingegeben, die Fahndungsdatenbank des Innenministeriums. Das Programm stellte ein gewaltiges Netz von Querverweisen her und spuckte seitenweise automatisch generierte Handlungsanweisungen aus. Es war verdammt mühsam, aber man konnte nie wissen, ob sich etwas davon nicht doch noch als wichtig erweisen würde.
Doch Logan wusste, dass es sich hier um reine Zeitverschwendung handelte, weil Peter Lumley schon längst tot war. Ganz egal, wie viele ältere Damen ihn auf den Straßen von Peterhead oder Stonehaven hatten herumspazieren sehen. Der Junge lag irgendwo in einem Graben, halb nackt und vergewaltigt.
Die Dienst habende Beamtin, eine Frau, die viel zu klug schien, um so dünn zu sein, drückte Insch einen Stapel Papiere in die Hand: die von HOLMES während seiner und Logans Abwesenheit ausgegebenen Anweisungen. Der Inspector nahm sie mit Duldermiene entgegen und überflog sie. »Müll, Müll, Müll«, murmelte er, während er einen unbrauchbaren Ausdruck nach dem anderen achtlos über die Schulter warf.
Jedes Mal, wenn HOLMES in einer Zeugenaussage auf einen Namen stieß, erzeugte das Programm eine Anweisung, wonach die betreffende Person zu vernehmen sei. Auch wenn es nur eine alte Frau war, die ausgesagt hatte,
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