Die dunklen Wasser von Arcachon
Schusswunde allein ursächlich für Lacombes Tod gewesen war.
Kirchner schämte sich. Er schämte sich für seinen Mangel an Aufmerksamkeit, er nannte sich in Gedanken selbst einen Idioten, und er verfluchte die drei bauernschlauen Geschichtenerzähler auf der Terrasse des alten Moreau, die ihn, der sich noch damit gebrüstet hatte, den Obduktionsbericht zu kennen, die ganze Zeit für dumm verkauft hatten.
Er rief wieder Pelleton an. »Henri, bitte frag nicht weiter, es tut mir leid, aber wir müssen jetzt noch einen Moment länger warten. Ich bin hier auf ein Detail gestoßen, das ich erst noch aufklären muss, sonst bricht uns die ganze Geschichte unter dem Hintern weg. Ich bin schon im Zug, aber was soll’s? Ich werde in Paris gleich nach Orly fahren, von dort aus geht nachmittags eine Maschine nach Bordeaux, das weiß ich. Die nehme ich, es geht nicht anders. Morgen komme ich dann entweder nach Paris, oder ich schicke dir die Geschichte aus Arcachon, was weiß ich.«
Pelleton war nicht erfreut über diesen Anruf, er hatte den Aufmacher schon vor sich gesehen und angefangen, über die Schlagzeile nachzudenken. Aber er schluckte seinen Ärger, war wieder der vorbildliche Chef. Erst später würde er wahrscheinlich seine Sekretärin anbrüllen und die Ressortleiter in der Konferenz piesacken.
Zu Kirchner sagte er nur, wie ein verständnisvoller Vater: »Du musst es wissen, Antoine. Es ist schade, aber nicht zu ändern. Halt mich auf dem Laufenden. Und pass auf dich auf.«
Kirchner ließ sich von der Reisestelle der Le Monde einen Sitz im Flugzeug nach Bordeaux buchen. Dann zählte er die Sekunden bis zur Ankunft in Paris, es wurde eine der längsten Zugfahrten seines Lebens.
***
In Montparnasse hetzte Kirchner durch die Hallen, durch die der stickige Dunst der großen Stadt zog.
Er musste noch quälend lange auf ein freies Taxi warten, dann ging es Richtung Orly, über den Boulevard Périphérique und am Großmarkt von Rungis vorbei.
Endlich rannte Kirchner durch das Westterminal des alten Pariser Flughafens zu seinem Ausgang, wo die Stewardessen schon nervös auf ihren letzten Passagier warteten. Kirchner hätte keine Minute später kommen dürfen.
Nun legte er, nach einem rumpelnden Start des kleinen Airbus, die gesamte Strecke, die er gerade mit dem Zug abgefahren hatte, in umgekehrter Richtung und in zehntausend Fuß Höhe noch einmal zurück, weiterhin wütend über sein Malheur, wütend darüber, dass er sich wie ein blutiger Anfänger an der Nase hatte herumführen lassen.
Um siebzehn Uhr fünfzehn landete die Maschine in Bordeaux-Merignac.
Kirchner nahm erneut ein Taxi und ließ sich zum Bahnhof in St. Jean bringen, wo sein Landrover im Parkhaus stand.
Im Feierabendverkehr, der den gesamten Autobahnring verstopfte und auch die Straßen nach Arcachon, weil das Wochenende gerade begonnen hatte, rief er den alten Moreau an, um sich die Nummer seiner Tochter geben zu lassen.
Kurz später hatte er sie persönlich am Apparat, erzählte ihr von seinem Tag, dem Pendeln zwischen Bordeaux und Paris und fragte: »Wo können wir uns treffen, Nadine? Das ist jetzt sehr wichtig!«
Ihre Stimme klang nun aber anders als am Abend zuvor; sie sprach viel kühler, abweisender. Nun, da Kirchner Zweifel an ihrer Version gekommen waren, die sie so bereitwillig und tränenreich zum Besten gegeben hatte, verlor sie ihre angenehme Offenheit. Sie verschloss sich wie eine Muschel, die aus dem Wasser an die Luft gehoben wurde. »Wir haben doch alles beredet«, sagte sie.
»Wir haben nicht alles beredet. Es gibt da noch eine Stelle im Obduktionsbericht, die ich gestern noch nicht kannte und die ich mit Ihnen gerne noch einmal besprechen würde.«
»Das wird heute nicht mehr gehen«, sagte Nadine Dufaut.
Kirchner konnte spüren, dass sie unangenehm berührt war und ihr das Telefonat mit ihm sehr lästig fiel.
»Was soll das heißen, Nadine?«
»Ich bin seit Langem zu einer Hochzeit eingeladen«, sagte sie, »ich kann sie unmöglich absagen.«
»Dann nehmen Sie mich mit.«
»Das wird auch nicht gehen«, sagte Nadine, die jetzt noch kürzer angebunden war. »Wir haben doch wirklich alles besprochen. Entschuldigen Sie mich jetzt, ich muss mich fertig machen. Es tut mir leid.«
Dann legte sie grußlos auf.
Kirchner wählte hektisch die Nummer von Nadines Mann, Guillaume Dufaut, die er sich zum Glück am Vorabend schon hatte geben lassen. Er ließ es so lange läuten, bis der Anrufbeantworter ansprang. Zu hören war
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