Die dunklen Wasser von Arcachon
Margaux-Wein hatte einkochen lassen und die er ganz am Ende mit Butter aufmixte.
Kirchner war, obwohl er den Küchenbetrieb kannte, wie immer beeindruckt vom meilenweiten Abstand, der zwischen den Profis und Hobbyköchen wie ihm selbst bestand.
»Habt ihr hier irgendwo ein Guckloch, durch das ich mal einen Blick werfen könnte?«, fragte Kirchner Lasserre, der mit rundem Rücken gerade die Chartreusen dressierte, Teller für Teller.
»Hier geht nichts raus, was ich nicht gesehen habe«, schrie er in den Raum hinein. Dann sagte er zu Kirchner: »Du kannst dich oben an die Schwingtür stellen, wo die Kellner rein- und rausgehen. Einen Wachturm, wo man alles sieht, haben wir hier leider noch nicht.«
Kirchner folgte den Kellnern, die mit je vier Tellern auf den Armen zum Speisesaal eilten. Es ging über eine kurze Treppe nach oben zu einer Tür, die sich in schnellem Rhythmus und mit lauten Schlägen öffnete und wieder schloss. Er sah nicht gut von dort, er sah eigentlich überhaupt nichts, ein Großteil des Saals blieb verborgen.
Kirchner entschloss sich, es anderswo zu versuchen. Mit seiner Kochjacke und dem Haarnetz fiel er nicht weiter auf, die Festgäste hatten mit sich selbst zu tun, das Essen hatte begonnen. Von der Schwingtür bis zu den Tischen öffnete sich ein vielleicht vier Meter breiter, unbestuhlter Raum, in dem irgendwo eine Nische zu finden sein musste, von der aus er das Treiben besser beobachten konnte. Und falls nicht, konnte er immer noch auf dem Absatz wieder kehrtmachen und würde im Trubel der Servierer nicht auffallen.
Mit einem Schwarm Kellner ging er also hinaus und wollte gleich nach links abbiegen, aber dort führte eine Mauer entlang, vor die er fast gelaufen wäre. Er drehte sich daher in die Gegenrichtung und hätte dabei einem der Ober fast die Chartreusen vom Arm gekippt. Auf der anderen Seite waren die Toiletten, deren Eingänge durch eine spanische Wand vom Gastraum abgetrennt waren. Dort konnte sich Kirchner eine Weile aufhalten, ohne bemerkt zu werden.
Die spanischen Wände bestanden, passend zum Stil des Hauses, aus Segeltuch, das auf mastartige Stangen gespannt war. Kirchner stand jetzt zwischen den Türen zur Damen- und zur Herrentoilette und fand einen Spalt, an dem eines der Segeltücher nur ungenau aufgehängt war. Er blinzelte durch die Ritze und hatte keinen schlechten Überblick, wenn er den Kopf, dicht am Tuch, hin- und herrollte.
Hinter ihm öffnete sich die Tür der Damentoilette, und eine alte Frau im Sonntagsstaat stand plötzlich vor ihm, die »Huch!« machte, als sie ihn sah, die sich aber, wie er es erwartet hatte, nichts weiter bei seinem Anblick dachte und arglos zurück an ihren Tisch ging.
Am Kopf der Tafel, die in U-Form und mit Querrippen an den langen Seiten des Us aufgebaut war, saß, mit dem Rücken zu ihm und vielleicht acht Meter entfernt, das Brautpaar. Evelyne hatte die Haare kunstvoll hochgesteckt, was ihre schmalen Schultern besonders zur Geltung brachte. Von hinten sah sie aus wie eine Wiedergeburt von Audrey Hepburn zu Zeiten von My Fair Lady . Links von ihr nahm Kirchner die Rückseite ihres pockennarbigen Bräutigams Creuzet wahr. Vom Stuhl des Sportministers flossen rechts und links die dunkelgrauen Schwalbenschwänze eines Fracks zum Parkettboden.
Kirchner erkannte Guillaume Dufaut und Nadine in der Menge, der alte Decayeux saß direkt neben dem Bräutigam. Verteidigungsminister Fleurice war da, Wirtschaftsstaatssekretär Guillemin, der Präfekt aus Bordeaux, der Bürgermeister von Arcachon, dessen Gesicht Kirchner kannte, weil er auch in der Pariser Nationalversammlung saß und gerade auf den Vorsitz der Konservativen Partei spekulierte. Zwischen den Politikergrößen, die sich in ihrem Pariser Ruhm sonnten, drückte sich lokale Prominenz auf den Stühlen. Es waren auch ein paar Sternchen aus der Hauptstadt da; Kirchner sah den Chansonnier Primat an der Seite einer Frau, die seine Tochter hätte sein können, und den Schauspieler Petrossian, der im vergangenen Jahr für seine Darstellung des Wellington in einer neuerlichen Verfilmung der Schlacht von Waterloo einen César gewonnen hatte.
Als die Chartreusen fast gegessen waren, erhob sich der alte Decayeux. Mit seinem breiten Rücken erinnerte er Kirchner an die Menschenaffen in den afrikanischen Nebelwäldern, nur eben in einem Frack. Kirchner fürchtete schon, Decayeux würde sich umwenden, um womöglich zur Toilette zu gehen. Aber der Vizebürgermeister von Gujan-Mestras, der
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