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Die dunklen Wasser von Arcachon

Die dunklen Wasser von Arcachon

Titel: Die dunklen Wasser von Arcachon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Tanner
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für das frisch vermählte Paar den Standesbeamten gemimt hatte, nahm die zierliche Dessertgabel und schlug damit vorsichtig an sein Weinglas zum Zeichen, dass er eine Rede halten wolle.
    »Verehrtes Brautpaar«, dröhnte seine Stimme durch den Saal, »sehr verehrte Herren und Damen Minister, Exzellenzen, Monsieur Petrossian, Monsieur Primat, hochverehrte Festgesellschaft, es ist mir eine Ehre, zu Ihnen sprechen zu dürfen!«
    Es ist allerdings kein großes Vergnügen, dir zuzuhören, dachte Kirchner in seinem Versteck.
    Decayeux hielt eine Rede wie aus einem Buch, er redete vom geteilten Leid und der verdoppelten Freude, was man so sagt, wenn sich ein Paar verheiratet. Er nannte Creuzet einen großen Freund Arcachons und Evelyne eine Blume der Region. Seine Zuhörer glucksten, obwohl es nichts zu glucksen gab, und sie trugen Decayeux mit bemühter Aufmerksamkeit durch seine Rede, bereit und willig, noch den kleinsten Anflug eines Scherzes zum Anlass für ausgelassenes Gelächter zu nehmen.
    Evelyne hatte Decayeux ihren Kopf zugewandt, sodass Kirchner sie jetzt im Profil sehen konnte. Sie sah nicht wirklich glücklich aus, fand er, sie lächelte zwar, aber sie leuchtete nicht von innen. Er ärgerte sich, dass er so wenig von ihr wusste und noch weniger von ihrer Verbindung zu Creuzet und zu Lacombe.
    Dessen unnatürlicher Tod, von dem viele hier im Saal wussten, spielte in Decayeux’ Rede natürlich keine Rolle. Er war der Welt ja auch noch gar nicht bekannt gemacht, und doch war dies hier – was Decayeux, Creuzet, Evelyne und viele andere hier im Saal betraf – eine bestürzende Vorstellung von vollendeter sozialer Heuchelei.
    Nach ein paar weiteren Girlanden war Decayeux endlich ans Ende seines Manuskripts gekommen. Er beugte sich zum Tisch hinunter, nahm sein Glas in die rechte Pranke, erhob es auf das Brautpaar.
    »Aber ich trinke auch«, sagte er unter dem wohlwollenden Raunen der Anwesenden, »auf den Erfolg unseres wunderbaren Projekts Nautilus und auf eine goldene Zukunft für unser schönes Arcachon und seine schönen Nachbarn. Das Brautpaar lebe hoch!«
    Die Kellner, die dezent auf das Ende der Rede gewartet hatten, stürmten nun geschäftig den Saal, um den Chartreuse-Gang abzuräumen. Lasserre saß im Keller sicher schon nervös inmitten seiner Kalbsnüsschen.
    Einige Damen und Herren der Gesellschaft machten sich daran, zur Toilette zu gehen.
    Kirchner musste nun wieder unbemerkt aus seinem Versteck verschwinden und mischte sich, mit einigen schnellen Schritten zur Seite, unter die zurückkehrenden Kellner, in deren Strom er im Souterrain der Küche verschwand, schweißüberströmt vom Stress, der in ihm dort oben die ganze Zeit gearbeitet hatte.
    »Wie sehen Sie denn aus?«, fragte Lasserre. »Geht’s Ihnen nicht gut, Antoine? Sie sind ja bleich wie ein Leichentuch! Essen Sie was, Mensch!«
    Mit diesen Worten schob er Kirchner mit der Hand einen Bissen Kalbfleisch in den Mund, der ihm in diesem Moment vorkam wie göttliches Manna.
    Kirchner stand in der Küche und wollte sich gerade wieder an die Arbeit machen – er sollte jetzt helfen, einen Eimer Birnen zu schälen –, als unter der Kochjacke sein Blackberry klingelte. Er knöpfte sich rasch die Jacke auf und erwischte den Anrufer im letzten Moment. Es war, zu seiner Überraschung, der alte Fischer vom Hafen, der Kapitän der Elise .
    »Hör’ mal, Monsieur Le Monde , ich weiß ja nicht, wo du steckst«, sagte er, »aber Michel hier – also mein Enkel, weißt du? –, der hat mir grade was erzählt, was allerdings sehr merkwürdig ist, und das wird dich bestimmt interessieren.«
    »Worum geht’s denn?«, fragte Kirchner.
    »Na, worum geht’s wohl? Komm einfach mal her, dann wirst du schon sehen. Wir sind in der Kneipe am Hafen, weißt du? Gleich neben der Fischhalle, das bunte Ding mit den Wimpeln davor.«
    »Ja, ich seh zu, dass ich schnell komme.«
    Der Anruf des Kutterkapitäns kommt zu einer schlechten Zeit, dachte Kirchner.
    Er hatte zwar keine Idee, wie er aus der Hochzeit hier noch mehr Kapital für sich und seine Geschichte schlagen sollte, aber der Gedanke, jetzt zu gehen, behagte ihm nicht. Irgendetwas ereignete sich immer, wenn Menschen zum Feiern zusammenkamen. Spät in der Nacht meist, wenn der Alkohol in den Köpfen tanzte, wenn die Geduld überreizt war, wenn die frommen Lügen der Gesellschaft aufgebraucht waren, flossen die Tränen oder die Fäuste flogen, man konnte nie wissen.
    Aber der alte Fischer hatte ihn bislang nicht

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