Die Durchschnittsfalle (German Edition)
diese Tarnung nur sehr schwer auf den Birkenbäumen ausmachen. Sie werden sofort schlussfolgern – erfolgreiche Strategie für das Überleben des Birkenspanners – gut gerüstet für die Zukunft! Und ja, man könnte den Birkenspanner fragen, wo er diese für ihn so vorteilhafte Maserung her hat. Könnte er antworten, wer weiß, was er sagen würde. Halten Sie es für möglich, dass er einfach etwas gelangweilt antworten würde: „So etwas hat man, oder man hat es eben nicht“?
Aber jetzt das eigentlich Interessante an dieser Geschichte. Seit eh und je existiert auch eine dunkle, fast schwarze Form des Birkenspanners. Diese Variante des Schmetterlings hat ganz dunkle Flügel. Auf den ersten Blick ist das ein Paradebeispiel für eine genetische Veränderung (übrigens eine Mutation im Gen für das Pigment Melanin), die einen Überlebensnachteil darstellt. Diese sehr seltenen dunklen Falter fliegen zu den Birken, werden dort von den Vögeln sofort entdeckt und gefressen. Die oben genannten Kritiker würden jetzt ungebremst in den „Choral zum heiligen Durchschnitt“ einstimmen: „Die braucht aber wirklich niemand! Diese dunklen Birkenspanner benötigt heute niemand und in Zukunft auch keiner. All die Energie zur Bildung der Raupe, die sich von Blättern ernährt. Dann die Verpuppung in der Erde und schließlich … ein Schmetterling, der so schlechte Überlebenschancen hat. Was für eine Ressourcenverschwendung!“
Ich weiß, Sie verzeihen mir das, aber es ist zu verlockend, den anderen Birkenspannern, die von ihrer Maserung her aussehen wie die Birkenbäume, „ein paar Worte in den Mund zu legen“. Ich weiß nicht wirklich warum, aber ich fürchte, würden diese Birkenspanner irgendwie repräsentativ für unsere aktuelle gesellschaftliche und politische Entwicklung sein, würden sie vielleicht die beiden dümmsten, aber leider eben am weitesten verbreiteten Argumente vorbringen. Könnten sie aber auch nur ein paar Silben von sich geben, sie würden wahrscheinlich zu den schwarzen, seltenen Birkenspannern leider sagen: „Schaut doch einmal auf die Birkenbäume! Die sehen anders aus als ihr! Das war schon immer so!“ Und sollte das als Untermauerung ihrer Überzeugung, dass die schwarzen Falter wirklich sinnlos sind, nicht genügen, würden sie vielleicht noch mit einem zweiten ebenso oft verwendeten und ebenso dummen Argument nachsetzen: „Und außerdem – wir sind viel mehr als ihr!“ Das war schon immer so, und wir sind viel mehr als ihr – wie entwaffnend.
Mehr zu sein als andere reicht vielen Menschen in ihrer täglichen Argumentation vollkommen aus. Das erlebt man am Wirtshaustisch genauso wie in der Wissenschaft. Nichts ist schwerer als am Tisch der Einzige zu sein, der eine Meinung vertritt, wenn doch alle anderen eine andere favorisieren. Das Gelächter, die Überheblichkeit der Mehrheit – und so oft irrt sie doch. Der österreichische Journalist Helmut A. Gansterer schreibt in seinem Buch „Endlich alle Erfolgsgeheimnisse“ von der „sinnvollen Tapferkeit, anders zu sein als andere.“ „Taucht eine Genie auf, verbrüdern sich die Dummköpfe“ , hat der irische Schriftsteller Jonathan Swift einmal gesagt. Es gibt aber auch wirklich in der Geschichte viele Fälle von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen einzelner brillanter Forscher oder Denker, die angezweifelt und in Misskredit gebracht wurden, nicht etwa weil die vielen anderen Kollegen wissenschaftliche Überprüfungen und Begutachtungen der neuen Theorie durchgeführt hätten. Sehr oft glaubten die vielen anderen, es genüge, sich zu versammeln und abzustimmen! Wenn Sie jetzt gerade ein Schmunzeln auf den Lippen haben, so muss ich Ihre Stimmung dadurch trüben, indem ich Sie daran erinnere, dass dies das Prinzip demokratischer Regierungsformen ist. Wenn Demokratie mit Sicherheit die erstrebenswerteste Regierungsform darstellt, so bedeutet das nicht, dass Mehrheit nicht sehr oft irren oder sogar unethisch agieren kann. Ich muss Ihnen keine Beispiele aus der Geschichte aufzählen, Sie kennen genügend – für das eine wie auch für das andere.
Im frühen 19. Jahrhundert gab es rund um Manchester 99,99 Prozent Birkenspanner mit der Maserung, die dem Baum ähnelt, und nur 0,01 Prozent dunkle Falter. „Es war schon immer so, und wir sind viel mehr als ihr“ – wie schnell sich doch die Vorzeichen ändern können. 1848 konnte man in der Industrieregion um Manchester erstmals eine größere Anzahl an dunkel gefärbten Birkenspannern
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