Die Durchschnittsfalle (German Edition)
(und noch viel mehr) Begabungskategorien als Voraussetzung dafür wiederfinden.
Ich hatte auch schon die Ehre, ein langes öffentliches Podiumsgespräch mit dem weltberühmten Dirigenten und amtierenden Generalmusikdirektor der Wiener Staatsoper Franz Welser-Möst über Talente und Talentförderung zu führen. Ich erzähle Ihnen gleich noch davon. Auf die Frage, was ein Dirigent können muss, fasste Franz Welser-Möst einmal zusammen: „1) Das musikalische Talent beschränkt sich nicht auf die Beherrschung eines Instruments. Naturgemäß kann kein Mensch sämtliche Orchester-Instrumente spielen … 2) Organisatorisches Talent benötigt der Dirigent schon allein für sein eigenes Zeit-Management … 3) Das kommunikative Talent besteht einerseits aus der Gestik, der Zeichensprache des Dirigenten. Diese sogenannte ‚Schlagtechnik‘ hat wie jede Sprache zigtausende Nuancen, die auch vom Gesprächspartner abhängen … 4) Das psychologische Talent ist heute nötiger denn je. Dirigenten, wie alle Führungspersönlichkeiten, sind in unserer heutigen Gesellschaft nicht automatisch auf Grund ihrer Position eine Autorität.“ (Sinkovicz W.: „Franz Welser-Möst. Kadenzen. Notizen und Gespräche“) Das reiht sich perfekt in das Dogma ein: Kein Erfolg hängt nur von einem Talent ab.
Kann ein Talent ein anderes wettmachen?
Wenn wir bei unserem Beispiel mit dem Zusammendröseln vieler Talente zu einem dicken Seil des Erfolges bleiben, gelangen wir zu einem sehr wichtigen und auch kritischen Punkt all meiner Thesen in diesem Buch. Sie werden sehen, ich werde dieses Beispiel mit dem aus vielen dünnen Schnüren zusammengedröselten Seil später noch einmal in einem leicht anderen Zusammenhang verwenden. Auch weil man mit diesem Beispiel argumentieren kann, dass wenn eine dicke Schnur reißt, sie keine Funktion mehr hat. Wenn hingegen eine dünne Schnur, die eine von sehr vielen zu einem dicken Seil zusammengedröselten Schnüren ist, reißt, dann kann das dicke Seil immer noch voll funktionstüchtig sein. Das stimmt schon. Aber bedeutet das, dass eine fehlende Leistungsvoraussetzung einfach immer durch eine andere wettgemacht werden kann?
Die Antwort darauf ist sehr klar und zeigt leider mit unverrückbarer Härte auf biologische Grenzen: Nein. Wenn der von uns angesprochene Basketballbegeisterte nur 165 Zentimeter groß ist, kann er noch so ein großes Lungenvolumen, noch so eine emotionale Intelligenz, Teamfähigkeit etc. haben – er wird vieles, vielleicht sogar sehr vieles wettmachen (wir haben über die kleinen NBA-Stars als Beleg dafür gesprochen), aber der Größennachteil bleibt bestehen. So ungern wir das eigentlich hören wollen. Wenn ich Ihnen versichere, dass ich ab sofort Tag und Nacht übe, lerne und trainiere. Wenn ich Ihnen versichern könnte (und wie sollte ich das können?), dass ich sehr hohe emotionale, intrapersonale, interpersonale, visuelle, intellektuelle etc. Begabungen hätte. Würden Sie mir dann zustimmen, dass überhaupt nichts dagegen spricht, dass ich nach geraumer Zeit des intensivsten (von mir aus auch 10.000 Stunden) Übens, Übens und Übens singen werde wie Plácido Domingo? Nein? Warum nicht? Weil man so etwas hat, oder eben nicht?
Die Stimme
Fragen wir doch einfach den, der als einer der wichtigsten Stimmenkenner unserer Zeit gilt. Ich durfte ihn lange und ausführlich dazu befragen: Ioan Holender, der längst amtierende Direktor der Wiener Staatsoper seit dem Bestehen des Hauses (1869). Herr Direktor Holender hat schon vorher im Zuge seiner Tätigkeit als Sängeragent und dann 18 Jahre lang als Staatsoperndirektor eine Vielzahl heute weltberühmter Sängertalente entdeckt und war auch zum Beispiel nicht unmaßgeblich an der Karriere Plácido Domingos beteiligt. Ich habe ihn nach besonderen Leistungsvoraussetzungen gefragt, weil er in seinem aktuellen Buch „Ich bin noch nicht fertig“ schreibt: „Dabei spielt die persönliche Entwicklung eines jeden eine wichtige Rolle, wobei angeborene Begabung vieles wettmachen kann, manchmal sogar alles. Stimmen von außerordentlicher Schönheit des Timbres, von Farbe, Größe, Umfang und Interpretationstalent haben manchen zu Karrieren verholfen, die dann jedoch durch undisziplinierten Umgang mit den eigenen Ressourcen rasch endeten.“
Seine Antwort war sehr eindeutig. Direktor Holender ist fest davon überzeugt, dass der angeborene, genetische Anteil an der Stimme eines Menschen enorm, um nicht zu sagen alles ist. Eine Stimme hat man,
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