Die Edwin-Drood-Verschwörung 1 - 300 (German Edition)
bereit war, sie ohne Murren aufzugeben. »Ich geb auch noch einen aus. Kanns immer noch nicht fassen, dass meine Idee so eingeschlagen hat.« Ja, ja, wir wussten es inzwischen. Wahrscheinlich hatte er Ähnliches in einem Buch gelesen und einfach übernommen, wie es die gute bewährte Art des gemeinen Krimiautors ist. »Bist ein tolles Bürschlein«, lobte Oxana mechanisch, auch Sonja Weber lächelte anerkennend, selbst Mirjam, die kein Wort verstanden hatte, nickte aufmunternd in Richtung des eitel sich spreizenden Dichterlings.
Heimwärts. An eine Übernachtung bei Hermine war nicht zu denken gewesen, wir sehnten uns – bis auf Marxer, wie gesagt – nach Ruhe und Einsamkeit, ich stellte mich unter die Dusche – scheiß auf die Nachbarn – und ließ meine disparaten Gedanken wegschwemmen, kroch nackt unter die Bettdecke und wartete auf den Schlaf wie auf einen verspäteten ICE, wusste also, er würde nicht kommen, drehte mich um und wieder um, stand auf und rauchte, legte mich hin und befand, man solle doch nicht nackt schlafen, stand wieder auf und schlüpfte in meinen einzigen Schlafanzug, legte mich abermals hin und wartete auf eine Lautsprecherdurchsage – »Der Schlaf hat Einfahrt auf Gleis 3« – natürlich vergebens. Also stand ich endgültig auf und schaltete, weil keine Schlaftabletten im Haus waren, den Fernseher an.
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Um diese Zeit gibt es im Fernsehen nur zwei Arten von Sendungen: interessante und Wiederholungen. Ich erwischte letztere und sah mir die Ausgabe des Regionalmagazins vom vergangenen Abend an, eine verblüffte Reportervisage vor der inzwischen vertrauten Kulisse des ach so stillen Örtchens Großmuschelbach, wo, wie mir mitgeteilt wurde, »gerade der Punk abging«. Rave in den Straßen, Chillen im Bergwerk, dessen Tor, wie der Dichter sagt, erbrochen worden zu sein schien, schon türmten sich zu beiden Seiten des Einganges die für Massenbelustigungen obligatorischen Müllberge. »Cool«, sagte der Reporter dann, die Kamera schwenkte ein wenig zur Seite auf zwei neue Gesichter, übel geschwollene, blutverkrustete, mit lückenhaften Gebissen grinsende.
»Herr Krause ist der Initiator dieser bislang größten Facebookparty in unserem Bundesland. Herr Krause, wie sind Sie auf diese geniale Idee gekommen?« Der Angesprochene hatte hörbar Mühe, sich zurück zu artikulieren, brachte aber ein »Wir in Großmuschelbach sind immer am Puls der Zeit« hervor und Regitz neben ihm nickte heftig dazu. Sofort wurde ihm das Mikrophon hingestreckt. »Ich bin hier quasi der Advicer, also ähm, so der Chief of Organisation, also...« »Ja«, nuschelte Krause, »neue Formen des virtuellen Marketings, fremdenverkehrsmäßige Crossover-Plattformen, äh also jetzt eventkonzentriert, tertiärer Sektor, also serviceorientiertes Erlebnis als Geschichtshopping.«
Der Reporter machte »aha«. Wegen dem Bergwerk jetzt? »Genau«, bestätigte Regitz, »geht doch sonst kein Schwein hin, dabei ist es geschichtlich hoch interessant.« Das sei es wohl, sagte wieder der Reporter. »Aber warum hat man sie beide gefesselt in Herrn Krauses Fotostudio vorgefunden? Das hat doch bestimmt seinen Grund, oder?« Auf den war ich auch sehr gespannt.
Eine Antwort blieb Krause vorerst erspart, denn ein alkoholisiertes Mädchen sprang ihm kreischend auf den Rücken, rief »A horse, a horse!« und hieb ihrem ziemlich dicken Pferd mit der flachen Linken auf den weiß Gott nicht fla chen Bauch. »Aha«, sagte der Reporter, »verstehe. Das Gefesseltsein als Metapher der postliberalen Existenz, die Entfesselung quasi oder praktisch oder irgendwie die Befreiung von den Zwängen des Finanzmarkts oder, siehe Libyen, aus den Kerkern des Diktators. Richtig?« »Besser hätte ich es nicht formulieren können«, formulierte Krause und war sehr damit beschäftigt, seine Reiterin abzuschütteln, was ihm schließlich auch gelang. »Und das ist äh... Theaterblut, was sie beide da im Gesicht haben?« »Jaaaa«, ächzte Regitz mit schiefem Lächeln, »das soll unser politisches Anliegen noch unterstreichen.«
Mir war speiübel geworden. Die Burschen, das musste man anerkennend feststellen, drehten das Desaster zum Triumph, schon sah ich die Schlagzeilen der Morgenzeitung vor mir, »Genialer Marketingclou in Großmuschelbach«, vielleicht mit zünftigem »Riot«, wie er jetzt in ist, entfesselte Horden junger Menschen, die über die Hähnchenmastfarm herfielen, nicht um die armen Tiere zu befreien, sondern sich besonders frische Chicken
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