Die Ehre der Am'churi (German Edition)
begreifen, was gerade geschehen war.
„Was …“, begann er, doch Ni’yo legte ihm einen Finger an die Lippen und brachte ihn zum Schweigen.
„Jivvin, was siehst du, wenn du mich anblickst?“, fragte er mit schwankender Stimme.
Von der seltsamen Frage, wie auch der tiefen Qual, mit der sie ausgesprochen wurde überrumpelt, starrte Jivvin ihn nur an, fand keine Worte für das, was er dachte.
„Sprich mit mir!“, schrie Ni’yo. Tränen flossen über seine Wangen. „Sieh mich an und sag, was du dabei fühlst!“
Als Jivvin weiterhin stumm blieb, warf sich der junge Am’churi herum, floh, soweit die Kette es ihm gestattete, kämpfte heftig atmend um seine Fassung.
„Sprich es aus“, flehte er schließlich. „Ich kann jede Wahrheit ertragen, aber ich will sie hören. Sag mir, was du in mir siehst!“
Die Verzweiflung in Ni’yos Stimme schnitt tief in Jivvins verwundete Seele. Zögernd näherte er sich dem jungen Mann, darauf bedacht, ihn nicht zu berühren, zutiefst aufgewühlt und verstört von der seltsamen Wende der Ereignisse.
„Ni’yo, ich weiß nicht, was ich sagen soll“, flüsterte er. „Ich verstehe deine Frage, aber nicht die Antworten, die ich dazu finde. Du … es gibt dich zweimal. Ich sehe dich an und sehe eine abscheuliche Ratte, eine widerwärtige, bösartige Kreatur, deren bloßer Anblick mich krank macht. Es ist das, was ich schon immer gesehen habe, es ist das, was ich so sehr hasse und töten will, seit unserem ersten gemeinsamen Tag. Ich will dich leiden sehen, egal wie, dich verletzen, um jeden Preis.
Und dann sehe ich einen atemberaubend schönen Mann, einen Krieger, der es wert ist, Am’churi genannt zu werden. Einen zutiefst verletzten Menschen, dessen Einsamkeit und Schmerz mich weinen lässt, dessen Kraft ich so sehr bewundere. Einen Mann, den ich begehre, gleichgültig, welches Geschlecht er oder ich besitzen.“ Er streckte sehnsuchtsvoll die Hand aus, um Ni’yos Schultern zu berühren, ihn zu sich umzudrehen. Doch er wagte es nicht, und ließ sie langsam wieder sinken.
„Ich verstehe das alles nicht, Ni’yo. Wie kann es dich zweimal geben? Wie kannst du das hassenswerteste Geschöpf unter dieser Sonne sein, und zugleich das liebenswerteste? Ich bin so sehr zerrissen zwischen dem Wunsch, dich zu erschlagen und gleichzeitig mit meinem Leben zu verteidigen, dass ich es nicht ertragen kann. Es muss Wahnsinn sein. Vermutlich ist mein Geist verwirrt. Du solltest dich von mir befreien, bevor ich dir noch mehr Schmerz zufügen kann.“
Er lehnte sich gegen die Felswand, überwältigt von all diesen widerstreitenden Empfindungen, schloss die Augen, um nicht weinen zu müssen. Er spürte, dass Ni’yo sich ihm zuwandte, wartete innerlich angespannt, was als nächstes geschehen würde.
„Es ist kein Wahnsinn“, flüsterte Ni’yo, so nah an seinem Gesicht. „Zumindest hoffe ich es.“ Er setzte sich so dicht an Jivvin heran wie es ihm möglich war, ohne dass sie sich berührten.
„Ich will dir etwas von mir erzählen, Jivvin. Über das, was ich wirklich bin. Ich habe es noch niemandem erzählt, Leruam wie auch Am’chur hatten es verboten.“ Er blickte zu Boden, sprach mit leiser Stimme, zögernd, als würde es schmerzen, dieses Geheimnis zu enthüllen.
„Mein Vater war ein Am’churi, der lebendig in die Hände der Schattenelfen fiel. Sie töteten ihn nicht, sondern stellten Versuche mit ihm an.“ Er bebte leicht, Jivvin wusste nicht, ob vor Zorn oder Scham. Wieder einmal hätte er Ni’yo so gerne getröstet, und wagte es nicht.
„Sie zwangen ihn, mit einer Elfe zusammenzukommen, die aus irgendeinem Grund zum Tode verurteilt war. Was sie sich genau davon erhofften, weiß ich nicht. Offenbar waren sie mit mir aber nicht zufrieden, denn sie wiederholten das Ritual, wenn man es so nennen darf, und erzwangen die Geburt meiner Schwester Lynea. Auch sie entsprach wohl nicht ihren Wünschen. Sie töteten meinen Vater. Meiner Mutter gelang die Flucht, Am’chur mag wissen, auf welche Weise. Mehrere Jahre lebte sie mit uns beiden an der Küste, versteckte ihren Körper unter Schleiern. Das Erbe der Kalesh zeigte sich weder bei meiner Schwester noch bei mir äußerlich, wenn man von recht dunklen Körperfarben absieht. Innen aber … es ist etwas in mir. Zorn, der alles zerstören will, Angst und Misstrauen vor den Menschen, und etwas, was alle vor mir zurückschrecken lässt. Ich bin stärker als ein normaler Mensch, selbst als ein normaler Am’churi, und ich bin
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