Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Unterkunft, das Honorar für den Lehrer liegt im eigenen Ermessen und wird im Anschluss an das Seminar gespendet. Im Speisesaal sehe ich Lydia bereits mit ihren Freundinnen am Tisch sitzen und die Erlebnisse des Wochenendes austauschen. Ich trage meine Sachen in unser Zimmer, während in meinem Kopf unentwegt die beiden letzten Sätze kreisen, die Gerald zu mir gesagt hat. Ich muss sie aufschreiben, damit ich sie nicht vergesse. Auf dem Tisch liegt ein Stapel Faltblätter, es sind Werbebroschüren für ein Yogainstitut, genauer gesagt, für Lydias Yogainstitut. Ich gratuliere mir zu meiner großartigen Menschenkenntnis und schreibe quer über ein Foto vom glänzenden Parkettboden in Lydias Studio: »Nichts zu wollen kann man nicht wollen. Man kann das Wollen nur sein lassen.«
Meine Sachen zu packen ist eine Angelegenheit von wenigen Minuten. Ich lasse den Koffer im Zimmer stehen, aber bevor ich zu den anderen in den großen Saal gehe, will ich noch meinen Dank entrichten. Ich weiß nicht, ob Gerald allein von Spenden lebt, aber das ändert ohnehin nichts an der Summe, die mir dieses Wochenende wert war. Neben dem Kasten liegen kopierte Adresslisten mit den Namen der Seminarteilnehmer. Weil ich mich beim Einchecken am Freitag dort eingetragen habe, nehme ich eine mit, obwohl ich mir ziemlich sicher bin, dass ich kein Interesse an einem späteren Erfahrungsaustausch mit Gleichgesinnten haben werde.
Es ist erstaunlich, wie schnell Menschen wieder zu ihrer normalen Lautstärke zurückfinden, nachdem sie zwei Tage geschwiegen haben. Ich bahne mir einen Weg durch herumirrende Gesprächsfetzen, es wird geplappert, was das Zeug hält. »Ich hab manchmal geglaubt, ich werde verrückt.« »In der Schweiz bieten die einen Kurs an, der ist Hardcore, sag ich dir, dagegen ist das hier nix.« »Was, du auch? Ich dachte, ich wäre die Einzige, der es so ging.« »Man muss es regelmäßig zu Hause machen, sonst wird das nie was.« »Also ich hatte schon Momente, wo ich dachte, Wahnsinn, das ist es jetzt.«
Ich lasse mich mit meinem Kaffee so weit wie möglich am Rand des Geschehens nieder. Heiderose winkt mir zu und ist schon im Begriff, einen Stuhl neben sich frei zu machen, aber ich schüttle den Kopf und ziehe eine kleine Grimasse, von der ich hoffe, dass sie nicht allzu unfreundlich wirkt. Nur ein paar Schritte von mir entfernt sitzt Gerald und zerlegt mit Bedacht ein Stück Pflaumenkuchen. Ich könnte ihm jetzt die Grüße ausrichten, die Irene mir aufgetragen hat, aber ich habe kein Interesse an einem persönlichen Gespräch mit ihm. Er war ein guter Lehrer für mich. Der Abstand stimmt. Ich beginne, meine Rückreise zu planen. Ungefähr drei Stunden Autofahrt liegen vor mir. Will ich unterwegs noch irgendetwas essen, und wenn ja, wo?
Miss Marple bleibt neben mir stehen, sagt über meinen Kopf hinweg »Herzchen, danke für die angenehme Nachbarschaft« und zieht sofort weiter, um Gerald ihre Aufwartung zu machen. Der wird gerade von Clint Eastwood belagert, es sieht nach einer größeren Sache aus, die Clint auf dem Herzen hat, aber Gerald lauscht seinen Worten mit gleichbleibend freundlichem Gesicht, obwohl sein Pflaumenkuchen erst zur Hälfte gegessen ist. Jemand setzt sich auf den freien Platz neben mich. Ich starre in den braunen Kaffeesatz, der sich wie der Umriss eines Kontinents auf dem Boden meiner Tasse abgesetzt hat. Es könnte Afrika sein. Oder Südamerika. Sprich mich nicht an, wer auch immer du bist.
Ein brauner, runder Gegenstand kommt mit einer leichten Unwucht über die Tischplatte angerollt, prallt gegen meine Tasse und kullert wieder ein paar Zentimeter zurück. Meine alten Reflexe funktionieren immer noch tadellos, ich will sofort sehen, welches Kind mir den Ball zugeworfen hat. Ich weiß: Wenn ich jetzt hochschaue, nehme ich die Einladung an. Wenn ich jetzt hochschaue, könnte es sein, dass ich ein langweiliges, nichtssagendes Gespräch mit einer langweiligen, nichtssagenden Person führen muss, an die ich mich später lieber als einen potenziell interessanten Menschen erinnern würde, wenn überhaupt.
Ich schaue hoch und bin nicht im Mindesten überrascht darüber, wer neben mir sitzt, höchstens über das, was er jetzt zu mir sagt. Ich höre ihm zu, und als er fertig ist, nicke ich. Er lacht verlegen und wirkt ein wenig erstaunt, so einfach hatte er sich das wohl nicht vorgestellt. Dann wendet er sich zum Gehen, dreht sich noch einmal zu mir um, fragt: »In zehn Minuten?«, und als ich wieder nicke,
Weitere Kostenlose Bücher