Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
verlässt er mit großen Schritten den Speisesaal.
Ich trödle noch ein bisschen herum, spüle ein letztes Mal meine Tasse aus, rufe ein kurzes Dankeschön durch die geöffnete Küchentür und gehe weiter, ohne eine Antwort abzuwarten. Dann hole ich meinen Koffer aus dem Zimmer. Lydia ist bereits ausgezogen. Als ich am Gruppenraum vorbeikomme, sehe ich neben Geralds Spendenkasten einen neuen Stapel mit ihren Broschüren liegen.
Er wartet am Ausgang. Wir gehen nacheinander durch die Tür ins Freie und werden von einem Sonnenuntergang empfangen, der mich mit seiner Schönheit befangen macht, als wäre ich persönlich für diesen Auftritt verantwortlich. Der Drang, jetzt etwas zu sagen, das den Bann bricht und die Situation von jedem Kitschverdacht befreit, ist fast körperlich spürbar. Ich schweige und lasse mich blenden.
»Mein Auto steht dahinten«, sage ich dann und zeige auf den Parkplatz, dabei merke ich, dass ich immer noch die kleine Krokuszwiebel in meiner Hand halte. Also schön, mein lieber Gärtnerkollege, aber du hast hoffentlich nicht mit einer abschließenden gemeinsamen Pflanzzeremonie gerechnet, als du mir die verlorene Zwiebel brachtest. Diese hier wird allein auf ihren Überlebenswillen angewiesen sein. Ich hole weit aus, und mein Wurf ist wie immer linkisch und ungenau. Die Zwiebel beschreibt einen lang gezogenen Bogen und stürzt mit einem leisen Plopp in den Gartenteich. Ich halte erschrocken die Luft an, der Mann neben mir lacht und sagt: »Ich habe irgendwo gelesen, dass sie sich in einen Lotus verwandeln, wenn sie mit viel Wasser in Berührung kommen.«
»Wenn ich das heute Mittag schon gewusst hätte«, sage ich, und er widerspricht sofort, nein nein, das gelte nur für Einzelzwiebeln, die bei Sonnenuntergang versehentlich versenkt würden, und ich denke, das war’s dann wohl mit der Stille, und er sagt »Ich heiße Simon«, und dann gehen wir zusammen zum Auto, unsere Schatten so lang wie die von zwei Kindern auf Stelzen.
Teil 2
6. November – 9. November
1.
Der Mann, der Simon heißt, hält sich an sein Versprechen, nachdem wir losgefahren sind. Als mein Telefon nach seiner langen Auszeit in der Handtasche hinten auf dem Rücksitz wieder zu sich kommt und quäkend den Empfang neuer Nachrichten meldet, greift er nur nach der Tasche und reicht sie mir, ohne etwas zu sagen, und ich stelle das Gerät ab, ohne hinzusehen. Die Art, wie er mir die Tasche wieder abnimmt und auf der Rückbank verstaut, ist von einer stillen, unaufgeregten Selbstverständlichkeit, als würde er das ständig tun, Dinge übergeben und wieder zurücknehmen, ohne Unterwerfungsgetue und ohne artige Beflissenheit.
Ich weiß immer noch nicht, warum ich damit einverstanden war, ihn in die Stadt mitzunehmen. Mir ist weder nach Gesellschaft noch nach Alleinsein zumute; es gibt nichts, worüber ich in Ruhe nachdenken oder wovor ich lieber fliehen möchte. Ich fühle mich dünnhäutig und berührbarer als gewöhnlich, dümple irgendwo in meiner Mitte herum und mache mir gerade keine nennenswerten Sorgen. Ein Seitenblick verrät mir, dass mein Mitfahrer sich auch keine macht, er sitzt entspannt da und schaut nach vorn, seine Hände liegen auf den Oberschenkeln. Es sind schöne Hände, finde ich. Auf den Fingergliedern unterhalb der Knöchel schimmert zarter, goldener Flaum, so golden wie der Ring an seiner Rechten. Ich habe ihm nicht einmal gesagt, wie ich heiße. Es steht zu befürchten, dass ich später nur als namenlose Weitwurfkönigin in seiner Biografie erscheinen werde. Gut, damit kann ich leben.
Wir erreichen die Stadtgrenze zusammen mit der einsetzenden Dunkelheit, die Straßenbeleuchtung schaltet sich ein, und ich versuche mich zu erinnern, ob er mich vorhin im Speisesaal geduzt oder gesiezt hat. Wieder ist es eine Banalität, mit der ich das Schweigen beende, aber das Hinweisschild, das ich an einer Kreuzung sehe, verlangt nach einer Entscheidung.
»Soll ich dich direkt am Bahnhof absetzen? Wann geht dein Zug?«
»Du hast doch gesagt, du würdest noch einen Kaffee mit mir trinken.«
»Hab ich nicht.«
»Nein, nicht direkt«, sagt er. »Aber du hast vorhin auf alles genickt, was ich dich gefragt habe, und da war ein Kaffee dabei.«
»Es waren Mitfahren, Kaffee oder Abendessen und Schweigen im Auto dabei.« Ich erinnere mich genau. »Und ich habe auf Mitfahren und Schweigen genickt. Also Bahnhof?«
»Auch kein Abendessen?«
»Also Bahnhof«, sage ich und biege ab. Die Stadt ist mittelgroß und recht
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