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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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ein Stück nach vorn. Ich kann ihn mir mühelos bei einer Präsentation vor dem Aufsichtsrat vorstellen. »Es kann doch nicht darum gehen, die Dinge auszusitzen, bis sie wieder von selbst verschwunden sind. Gelassen beobachten und alles annehmen, das mag eine gute Meditationspraxis sein, aber ich muss doch in meinem Leben auch handlungsfähig sein.«
    »Aber natürlich!«, ruft Gerald begeistert, als wären sie endlich bei seinem Lieblingsthema angekommen. »Natürlich müssen Sie handeln! Meditation lehrt Sie nicht, in Ihrem Leben passiv herumzusitzen. Aber wenn Sie mit einem Problem konfrontiert sind, dann nehmen Sie sich die Zeit, Ihre Empfindungen mit Gleichmut und Gelassenheit zu betrachten. Sorgen Sie dafür, dass Ihr Geist ruhig und ausgeglichen ist, wenn Sie Entscheidungen treffen. Ist er es nicht, dann reagieren Sie nur. Ein gelassener Geist ist nicht mehr gefangen in einem negativen Reaktionsmuster, sondern fähig zum aktiven, positiven Handeln.«
    »Danke. Darf ich Sie noch etwas fragen?«
    »Nur zu«, sagt Gerald.
    »Wenn ohnehin alles vergänglich ist und nichts bleibt, wenn das Leiden unvermeidlich ist, warum sagen die Buddhisten immer ›Mögen alle Wesen glücklich sein‹? Wo es doch dieses dauerhafte Glück gar nicht gibt?«
    Na, da macht er aber ein Fass auf, mein Kollege aus dem Garten. Im Raum ist es wieder so still wie vor dem Aufheben des Schweigens, und Gerald sieht aus, als wäre das hier sein zweitliebstes Thema.
    »Ich versuche es mit einer Kurzfassung, denn unsere Zeit wird knapp«, sagt Gerald. »Das Glück, von dem die Buddhisten reden, ist eine andere Art von Glück als das, nach dem wir uns normalerweise sehnen. Wir wollen materiellen Besitz, ewige Liebe, schöne Gefühle, dauerhafte Gesundheit. Dieses Glück und seine Vergänglichkeit, unser Festhalten an ihm und unsere Ablehnung von allem, was uns schmerzt oder nicht gefällt, das ist die größte Quelle unseres Leidens. Der Anteil von wirklich unvermeidbarem Leid in unserem Leben ist so viel kleiner als wir denken.«
    Ich werde das nachprüfen. Wie großartig, wenn er recht hätte. Und wie schrecklich. Ein Großteil meiner Lebensphilosophie wäre mit einem Schlag hinfällig.
    »Und das Glück? Mit einer inneren Haltung von Gleichmut und heiterer Gelassenheit entsteht ein Glück, das nicht an positive oder negative Anhaftungen gebunden ist. Es ist ein Glück, das aus einem starken, klaren Herzen kommt, frei von Erwartungen und Befürchtungen. Es ist ein Glück, das bleibt. Wer gelernt hat, alle Höhen und Tiefen des Lebens anzunehmen, ohne sein inneres Gleichgewicht zu verlieren, ist ein wahrhaft glücklicher Mensch.«
    Der Fragesteller nickt schweigend, und Gerald lächelt. Es wäre ein guter und inniger Moment gewesen, um das Wochenende abzuschließen, aber jetzt will Lydia noch etwas sagen. »Ich möchte Ihnen gern im Namen aller für diesen wunderbaren Kurs danken.« Sie macht eine ausholende Handbewegung und eine kleine Pause, als würde sie den einsetzenden Applaus für Gerald abwarten wollen. Als niemand sich rührt, fährt sie fort: »Ich habe schon unzählige Meditationskurse besucht, aber der hier war der beste.«
    Gerald belässt es dabei, ganz kurz den Kopf mit einer solchen Anmut zu neigen, dass ich mir vornehme, diese Geste zu kopieren und in mein Repertoire für Notfälle aufzunehmen, in denen jede Antwort verschenkt wäre. Dann sagt er: »Aber auch die Kaffeetafel, die nebenan auf uns wartet, kann zu unserem Glück beitragen. Ich danke Ihnen für Ihre Bereitschaft, diesen Raum der Stille miteinander zu teilen. Kehren Sie gut und wohlbehalten nach Hause zurück.«
    Innerhalb von Sekunden legt sich ein Klangteppich aus Gemurmel und Geraschel über Geralds Abschiedsworte. Ich wende mich nach rechts zu Namevergessen. »Danke«, sage ich. »Für die Taschentücher. Nicht nur, weil ich mir endlich die Nase putzen konnte.«
    »Gern geschehen«, sagt sie. Sie hat leuchtende braune Augen mit kleinen Einsprengseln aus Gold. Sie heißt Heiderose und lacht, als ich ihr erzähle, wie ich sie in Gedanken genannt habe.
    »Du warst für mich die ›traurige-Frau-die-so-tapfer-ist‹«, sagt sie. Ich frage sie nicht, wie sie darauf gekommen ist.
    Zum letzten Mal sammle ich Bettzeug, Wolldecken, Socken und Pullover von mir ein und tilge alle Spuren, die ich hinterlassen habe. Vor dem Meditationsraum steht jetzt ein Kasten mit der Aufschrift »Spenden für den Lehrer«. Richtig, bezahlen musste ich bisher nur für mein Essen und die

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