Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
überschaubar.
»Nein, warte«, sagt Simon. »Ich muss nicht zum Bahnhof. Ich hab hier in der Stadt ein Hotelzimmer, die Adresse ist in meinem Handy. Ich fahre erst in ein paar Tagen weiter. Du kannst mich überall rauslassen, wo du willst, ich rufe mir dann ein Taxi.«
Ich fühle mich erst etwas überrumpelt, dann wird mir klar, dass ich stillschweigend davon ausgegangen war, ein Mann mit Koffer wolle nirgendwo anders hingebracht werden als bis zum nächsten Bahnhof. Die Frage, warum er sich nicht gleich ein Taxi ins Seminarzentrum bestellt hat, hängt wie eine Sprechblase über meinem Kopf.
»Es ist genau das, was du jetzt wahrscheinlich denkst«, sagt Simon. »Ich hätte sonst niemanden nach einer Mitfahrgelegenheit gefragt. Du warst die Einzige aus diesem Kurs, auf die ich wirklich neugierig war. Immerhin saß ich dir fast drei lange Tage gegenüber und konnte nichts sagen.«
Sätze, in denen »du bist die Einzige« vorkommt, verfehlen selten ihre Wirkung auf mich, im Guten wie im Schlechten. Ich frage mich, was beim Meditieren sein Interesse an mir geweckt haben könnte. Vielleicht ist er ein Esoteriker, der die Aura von anderen Menschen sehen kann, und jetzt möchte er darüber reden. Oder er ist ein Vergewaltiger, der seine gleichmütigen Opfer in Meditationsseminaren aussucht. Vielleicht ist er einfach nur ein Idiot. Vielleicht ist er ein netter Mann. Vielleicht ist er nichts von alldem, aber verheiratet ist er auf jeden Fall.
»Ich würde dich gern zum Essen einladen. Willst du?«
»Aber so was wie das hier kommt nicht infrage«, sage ich und zeige auf den neongelben Schriftzug von Chicken George , an dem wir gerade vorbeifahren. »Ich bin seit Freitagabend Vegetarierin, musst du wissen.«
Simon hat sein Mobiltelefon bereits in der Hand, ganz der gewiefte Tourist, der sich Restauranttipps übers Internet geben lässt und sie dann per GPS aufsucht. Ich bin mehr der visuelle Typ. Nur wenige Häuser hinter Chicken George entdecke ich eine Bar, die von außen einen netten Eindruck macht, also fahre ich kurzerhand rechts ran und stelle den Motor ab.
»Ich hab noch einen ziemlich langen Heimweg vor mir«, sage ich. »Höchstens eine Stunde, dann muss ich weiter.«
»Ich hoffe, dass ich bis dahin wenigstens deinen Namen weiß.«
»Ich heiße Mila.«
»Mila wie Ludmila?«
»Mila wie Mila. Mein Vater hat ein slawisches Gesicht gemacht, als er mich auf dem Standesamt anmeldete, und es hat funktioniert.«
»Mila ist ein wunderschöner Name. Jak sie˛ masz, Mila?«
»Was bitte?«
»Wie geht es dir, Mila? Hast du keine polnischen Vorfahren?«
»Danke, mir geht es bestens«, sage ich und öffne die Fahrertür.
Die Bar ist klein und gemütlich, die Küche hat zu unserem Glück seit zehn Minuten ihren Betrieb aufgenommen, und angesichts der attraktiven Speisekarte erkläre ich meine vegetarische Phase für vorläufig beendet. Er habe vor fünfzehn Jahren zum letzten Mal Fleisch gegessen, erwähnt Simon mit der Beiläufigkeit derer, die das Missionieren schon lange nicht mehr nötig haben, und entscheidet sich für ein Omelett mit Pilzen. Als er meine Verlegenheit bemerkt, ordert er einen halben Liter Rotwein dazu, als müsse er mir beweisen, dass noch genügend Untugenden bei ihm vorhanden sind, und bestellt ihn wieder ab, als ich ihn daran erinnere, dass ich mit dem Auto unterwegs bin. Der Kellner bringt Brot und ein Schälchen Oliven. Wir prosten uns mit Mineralwasser zu.
»Auf die Stille«, sage ich.
»Auf die vielen Tulpen, die im nächsten Frühling blühen werden.«
»Krokusse. Es waren Krokusse. Hat jedenfalls Die Silvia behauptet.«
»Was machst du, wenn du nicht gerade auf einem Meditationskurs bist, Mila?«
»Ich bin Yogalehrerin«, sage ich und versuche, eine der Oliven mit dem Zahnstocher aufzuspießen. »Ich habe ein eigenes Institut. Klein, aber fein. Meine Broschüren sind im Auto, ich kann dir nachher eine mitgeben.«
»Darauf wäre ich nie von allein gekommen«, sagt Simon. »Für mich siehst du aus wie eine, der diese Szene völlig fremd ist.«
»Tja.« Die Olive fällt mir runter, bevor ich sie zum Mund führen kann, und hinterlässt eine ölige Spur auf der weißen Tischdecke. »Eigentlich ist das auch nur mein zweites Standbein. Ich arbeite oft als Double bei Filmproduktionen. Als Verletzungs-Double. Wenn es irgendwelche klaffenden Wunden gibt, für die sich kein Star stundenlang in die Maske setzen würde, rufen sie mich an. Ich war schon mal der Ellbogen von Martina
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