Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Kaffee entgegenzunehmen. Ich höre, wie der Hotelangestellte auf Simons Nachfrage eifrig beteuert, wir fänden sicher noch bis halb zwölf etwas zum Frühstücken im Salon, vielleicht nicht mehr das komplette Programm, aber satt würden wir allemal, und Simon bedankt sich und schließt die Tür.
Ich muss Irene anrufen, und zwar schnell. Simon zieht die Vorhänge auf und lässt milchtrübes Tageslicht herein. Ich sehe zum ersten Mal, dass wir einen Balkon haben, nicht viel größer als eine Badewanne, mit schmiedeeisernem Geländer und einem einsamen Stuhl an der Wand. Ich setze mich auf den Bettrand und beginne mich anzuziehen. Als Simon mich fragend ansieht, zeige ich auf die Balkontür.
»Ich geh kurz nach draußen zum Telefonieren.«
»Warte«, sagt Simon und schenkt mir eine Tasse Kaffee ein. Ich nehme sie mit vor die Tür, zusammen mit meiner Handtasche und der Wolldecke, die jetzt endlich zum Einsatz kommt.
Der Balkon ragt in einen weiten Hinterhof hinaus. Unter mir ist eine verglaste Veranda, davor ein Rasenstück mit eingelassenen Steinplatten, das in der Sommersaison wohl als Gartencafé genutzt wird. Ein bisschen weiter rechts kann ich mein Auto auf dem Parkplatz erkennen. Über allem liegt feiner, feuchter Nebel, der schon nach wenigen Metern alle Farben und Formen schluckt. Was hinter der nächsten Häuserzeile liegt, lässt sich nur erahnen. Es ist sehr still. Das einzige wahrnehmbare Geräusch ist das leise Knattern eines Küchenventilators weiter unten.
Ich schalte mein Telefon ein. Sieben verpasste Anrufe, vier eingegangene Textnachrichten, eine immer noch im Postausgang. Ich werde gefragt, ob ich sie abschicken will. Nein, ich will nicht. Ich wickle mir die Decke stramm um die Hüften und setze mich auf den kalten Stuhl. Dann wähle ich Irenes Nummer. Wie jeder Hotelkaffee ist auch dieser hier viel zu dünn, aber wenigstens ist er heiß.
Es klingelt am anderen Ende, fünf Mal, sechs Mal. Dann springt der Anrufbeantworter an. Sehr gut, das macht die Sache wesentlich einfacher. Ich warte auf das Ende der Ansage und den Signalton.
»Hallo Frau Weiß, hier ist Mila. Tut mir leid, dass ich so spät dran bin, aber ich muss unseren Termin um zwölf absagen. Ich ruf Sie noch mal an, sobald ich wieder –«
»Hallo? Mila? Sind Sie noch dran?«
»Ja, bin ich«, sage ich. Ich hätte schneller sprechen sollen oder weniger. »Sorry, dass ich jetzt erst anrufe. Ich wollte Ihnen nur sagen, dass ich heute nicht kommen kann.«
»Ah ja?«
Ich sehe Irene vor mir, wie sie bei Ah ja ? die Augenbrauen hebt und ihren Blick über den strassbesetzten Brillenrand hinweg in meine Richtung schickt, die Lider halb geschlossen. Ah ja ? heißt unter den gegebenen Umständen: Mädchen, du weißt genau, wie sehr ich kurzfristige Absagen hasse, und das nehme ich dir übel, es sei denn, du hast einen triftigen Grund und nennst ihn mir auf der Stelle .
»Ich bin gestern nach dem Schweigeseminar nicht mehr nach Hause gefahren. Es ist spät geworden. Und jetzt schaff ich’s nicht rechtzeitig zu unserem Termin.« Äußerst plausibel und nicht mal gelogen.
Irgendwo in der Nähe muss eine Krähe hocken. Sie gibt knarrende Laute von sich, die sich wie Beleidigungen anhören. Irene sagt nichts, das ist die sicherste Methode, um mich weiterreden zu lassen.
»Das Wochenende war sehr – interessant. Danke noch mal für den Tipp. Ich melde mich dann später wieder bei Ihnen. Wegen eines neuen Termins.«
»Ich könnte Sie morgen Nachmittag noch mit reinnehmen.«
Sie ahnt, was Sache ist. Das war der Schnelltest. Sie gibt einem nie Termine in den darauffolgenden Tagen, wenn man den davor platzen lässt.
»Das tut mir wirklich leid, aber morgen Nachmittag kann ich auch nicht.«
»Ihnen scheint es ja sehr zu gefallen in dieser Gegend.«
»Oh ja. Es ist toll hier. Im Augenblick allerdings sehr neblig.«
Ich höre sie am anderen Ende lachen. »Rufen Sie mich an, wenn Sie wieder zurück sind, Mila«, sagt sie. »Viel Spaß beim Leben.«
»Danke«, sage ich und beende das Gespräch.
Beim Aufstehen sehe ich mein Spiegelbild in der Fensterscheibe und dahinter Simon, der mit gekreuzten Beinen auf dem Bett sitzt und sein eigenes Telefon in den Händen hält. Unsere Blicke finden sich. Simon lächelt. Ich trinke den letzten Schluck aus meiner Tasse, der nicht nur dünn, sondern inzwischen auch eiskalt ist, und gehe zurück ins Zimmer.
»Schlechte Angewohnheit«, sagt Simon und legt sein Telefon zur Seite. »Drei Tage ohne Nachrichten,
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