Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Millionen hysterischer Japanerinnen.
»Du hast einen Schweigekurs gemacht und bist an eine Geräuschprinzessin geraten.«
»Genauso ist es«, sagt Simon und küsst meine Stirn. Ich berühre mit der Fingerspitze die Schnittwunde an seinem Hals. Sie ist viel kleiner, als ich sie in Erinnerung hatte. Das meiste von der eingetrockneten Blutspur ist verschwunden. Ich reibe den Rest vorsichtig von der Haut.
»Wie ist die Geschichte mit deinem polnischen Großvater ausgegangen, Mila?«
»Er hatte einen langen weißen Bart«, sage ich und gähne. »Als er starb, reichte er ihm bis zu seinen Füßen. Er ließ niemanden ran. Was ich dir vorhin gesagt habe, stimmt nicht. Es war meine Großmutter, die ich immer rasieren musste. Sie hatte den üppigsten Damenbart von ganz Legnica. Man munkelte, sie habe auch Haare auf der Brust, aber da durfte ich nie nachschauen.« Ich kann nicht mehr aufhören zu gähnen.
Simon lacht leise in sich hinein. Dann sagt er: »Okay, heute keine Familienfragen mehr.«
Er steht auf und deckt mich sorgfältig zu, bevor er geht, als wäre ich ein Kind und er mit seiner Gutenachtgeschichte am Ende angekommen, und in meinem Kopf entsteht eine neue Vermutung, die ich energisch zur Seite schiebe. Heute keine Familienfragen mehr. Der Ventilator im Bad heult kurz auf und verstummt wieder. Ich liege zusammengerollt auf der Seite und versuche auszurechnen, wann ich losfahren muss, um rechtzeitig bei Irene einzutreffen. Ich opfere in Gedanken das Frühstück und, als ich auf einen geradezu lächerlichen Wert für den Rest der Nacht komme, gleich noch das morgendliche Duschen. Fragen und Antworten passen in meinen Zeitplan nicht mehr hinein. Das ist gut so. Ich werde keinen Wecker stellen, das sichert mir einen hektischen Aufbruch ohne sentimentalen Abschied.
Simon löscht das Licht und kriecht wieder zu mir unter die Decke. Er schiebt seinen linken Arm unter meinen Kopf, mit dem rechten umfasst er mich und holt mich noch näher zu sich heran. Ich liege in Simon wie in einem Mantel, sein Herz schlägt direkt hinter meinem. Ich spüre seinen Atem an meiner Schulter. Beim Ausatmen wird meine Haut warm, wenn er einatmet, kühlt sie ab. Kein Mensch kann so schlafen. Es ist viel zu nah. Ich nehme Simons Hand und lege sie an mein Gesicht. Wir sind ganz still.
Viele Atemzüge später höre ich seine Stimme. Er spricht ganz leise, aber ich kann verstehen, was er sagt. Ich antworte nicht. Ich könnte ja längst eingeschlafen sein.
4.
Beim Aufwachen weiß ich, dass ich bleiben will. Simon weiß es auch. Ich sehe es an seinem Gesicht, als er mir die Uhrzeit verkündet, kein banges Nachforschen in meinen Augen, kein Triumph in seinen, nur die pure Freude, dass ich immer noch da bin. Es ist zwanzig vor zehn, und meine Vorbehalte haben sich nach ein paar Stunden Schlaf unter einer geteilten Bettdecke in ein wachsweiches Häuflein verwandelt, aus dem plötzlich Sehnsüchte sprießen. Ich will nicht, dass es schon vorbei ist. Ich will mehr. Ich denke kurz über organisatorische Notwendigkeiten nach, die sich im Grunde auf einen einzigen Anruf reduzieren lassen, während Simon neben mir liegt und mein Gesicht streichelt. Er hat heute Nacht »Geh nicht weg, Mila« geflüstert, daran erinnere ich mich genau, aber was hat er eigentlich damit gemeint? Es gäbe ein paar gute Gründe, erst mal so zu tun, als würde ich ganz entspannt nach dem Frühstück abreisen wollen. Wir könnten beide unser Gesicht wahren, falls unsere Pläne voneinander abweichen. Das wäre sehr umsichtig. Das ist lächerlich. Diplomatische Manöver waren noch nie meine Stärke. Meine Stärke ist ungeschicktes Vorpreschen.
Simon fragt mich nach Tee oder Kaffee, und bevor ich antworten kann, sagt er »Kaffee natürlich« und nimmt den Hörer vom Telefon am Nachttisch ab, um seine Bestellung bei der Rezeption durchzugeben. Dann dreht er sich wieder zu mir und umarmt mich. Mein Herz klopft, ich warte noch ein bisschen, dann nehme ich Anlauf und sage: »Simon, ich könnte sogar bis Mittwoch bleiben, aber wenn du lieber –«, und Simon setzt ein klares, festes Ja mitten in mein unvollendetes Rückzugsgeplänkel. Mehr braucht es nicht. Ich bin still. Wir liegen da und halten uns, nur das, nichts weiter als halten und schweigen und atmen und wissen, dass alle weiteren Fragen warten können. Auf einmal haben wir Zeit.
Wir bleiben so liegen, bis wir es klopfen hören. Simon steht auf, wirft sich in Hemd und Shorts und geht zur Tür, um das Tablett mit dem
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