Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
mir verboten, den Walkman außerhalb des Hauses zu benutzen. ›Das giebt bäses Blut‹, sagte sie. Agnieszka bezeichnete sie als ›Flittchen‹, was ich erst für ein polnisches Wort hielt, weil ich es noch nie gehört hatte. Es klang so schön nach Glitzerstaub und Elfe. Als sie uns im Hühnerstall erwischte, rastete sie völlig aus. Sie nahm mir den Walkman weg, aber ihn kaputt zu machen traute sie sich nicht, dazu hatte sie wohl doch zu viel Respekt vor den Luxusgütern des Kapitalismus. Sie öffnete mit erstaunlicher Geschicklichkeit die Klappe und holte die Kassette raus, warf sie auf den Boden und trampelte mit ihren klobigen Schuhen drauf rum. Dabei schrie sie Dinge auf Polnisch, die selbst die coole Agnieszka erbleichen ließen. Als sie fertig war, ließ sie den Walkman auf einem Brett voller Hühnerscheiße liegen und stampfte raus. Es war ja nicht so, dass die Kassette unersetzbar gewesen wäre, aber diese Demütigung habe ich ihr nicht verziehen. Ich bin rüber in die Hütte, um unsere Sachen zu packen, habe Marek von seinen Mohnklößen weggezerrt, und dann sind wir losmarschiert.«
»Du bist abgehauen?«
»Ja, auf der Stelle. Ich habe meinen zeternden Bruder hinter mir hergeschleift, und ihm folgte meine zeternde Großmutter und dahinter mein schweigender Großvater und dahinter das halbe Dorf, jedenfalls kam es mir so vor. Keiner hat versucht, mich aufzuhalten. Als wir an der Bushaltestelle ankamen, war nur noch meine Großmutter bei uns. Sie hatte offenbar beschlossen, dass es noch zu ihrem Aufgabenbereich gehörte, uns bis zum Bahnhof von Legnica zu bringen und dafür zu sorgen, dass wir das Land heil verließen. Während der Busfahrt saß sie fünf Reihen vor uns. Marek hatte inzwischen kapiert, dass es mir ernst war, und er wusste genau, dass er keine Chance hatte. Er rächte sich, indem er mir detailliert beschrieb, was für wunderbare Sachen er in den letzten Tagen zu essen bekommen hatte, weil er wusste, wie hungrig ich war. Großartige Szene für einen Film, findest du nicht?«
»Großartige Szene für ein Leben. Seid ihr noch am selben Tag aus Polen rausgekommen?«
»Ja, zumindest bis nach Westberlin. Die Freunde meiner Eltern waren nett. Sie haben nicht groß gefragt, was passiert ist. Sie haben uns erst mal in ihre Badewanne gesteckt, weil wir angeblich die kältesten und dreckigsten Füße vom gesamten Ostblock hatten. Seitdem denke ich immer bei kalten Füßen: Ostblock.«
»Im Herbst 83 habe ich Zivildienst gemacht und mich auf Demos gegen den NATO-Doppelbeschluss rumgetrieben«, sagt Simon. »Was hast du da anfangs über deine Mutter gesagt?«
Ich hole einen meiner Füße aus der warmen Höhle an Simons Bauch und fasse ihn an. Er hat Idealtemperatur. »Das ist eine Muttergeschichte«, sage ich. »Muttergeschichten sind nichts für vor dem Frühstück.« Ich will meinen anderen Fuß wegziehen, aber Simon hält ihn fest und setzt auf jede Zehenspitze einen Kuss, bevor er ihn freigibt.
»Dann will ich, dass es bald nach dem Frühstück ist«, sagt er.
Ich sage: »Dann lass uns frühstücken gehen.«
Natürlich schaffen wir es nicht rechtzeitig in den Salon. Als sich die Türen des Lifts hinter uns schließen, ist es längst nach zwölf, und meine Haare sind noch feucht vom Duschen. Der Mann hinter der Rezeption teilt uns mit höflichem Bedauern mit, dass das Buffet jetzt endgültig abgeräumt wäre, und empfiehlt ein Café in der Altstadt, keine fünfzehn Gehminuten entfernt. Er beschreibt uns den Weg. Wir sind bestens vorbereitet und haben unsere Jacken dabei. Ob er uns sonst noch behilflich sein könne, fragt der Mann, und ich bin übermütig und frage, ob es in der Altstadt auch ein Geschäft für Damenunterwäsche gäbe, ich wäre leider nicht auf einen längeren Aufenthalt vorbereitet gewesen, und er denkt mit gerunzelter Stirn nach und sagt dann, nein, ärgerlicherweise hätten die meisten Fachgeschäfte im Zentrum lauter Billig-Modeketten weichen müssen. Simon steht mit unbeteiligtem Gesicht neben mir, und während der Mann sich für einen leidenschaftlichen Vortrag über das Aussterben mittelständischer Unternehmen in seiner Heimatstadt warmzureden beginnt und ich mitfühlend nicke, gleitet Simons Hand diskret unter meinen Mantel und legt sich ebenso zärtlich wie zielsicher zwischen meine Beine. Ich schnappe nach Luft, und Simon sagt mit ernster Stimme »Kerzen. Wir dürfen auf keinen Fall die Kerzen vergessen«, und dann bedanken wir uns für die Auskunft und stürmen
Weitere Kostenlose Bücher