Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
draußen zu suchen?«
»Ich?«, sage ich, um Zeit zu gewinnen. »Wahrscheinlich das Gleiche wie du und alle anderen dort. Stille. Einsichten. Inneren Frieden. Das mit dem Frieden hat leider nicht so ganz geklappt.«
»Vielleicht ein bisschen viel verlangt für den Anfang. Bei dir war es doch auch der Anfang, oder?«
»Einsichten hatte ich auch keine.«
»Das glaube ich dir nicht. Jedes Mal, wenn ich zu dir rübergeschaut habe, sahst du wie eine weise, erleuchtete Frau aus. Ich habe mir vorgestellt, wie lauter Schüler zu deinen Füßen sitzen und dich anbeten.«
»Simon, hat dir vorher jemand erklärt, dass man beim Meditieren die Augen schließt?«
»Die Augen schließen? Davon war nie die Rede. Dann hätte ich dich doch gar nicht sehen können.«
»Wir sind uns zum ersten Mal am Freitagabend beim Geschirrspülen begegnet. Du hast mich angerempelt.«
»Ich kenne dich schon viel länger. Ich stand nachmittags beim Einchecken hinter dir. Irgendjemand kam rein und fragte, wer von den Gästen seinen Wagen mitten in der Einfahrt abgestellt hätte. Da wusste ich schon mal, dass du ein Auto hast.«
»Dann bist du doch so einer, der auf Seminare geht, um Frauen abzuschleppen. Ich hatte es mir fast gedacht.«
»Ich mache seit Freitag alles zum ersten Mal in meinem Leben, Mila«, sagt Simon. »Auch das hier.«
Ich auch, will ich rufen, aber das stimmt ja gar nicht. Ihre Anzahl ist überschaubar, aber es hat schon vorher in meinem Leben unbekannte Männer in unbekannten Zimmern gegeben, und manche von ihnen trugen einen Ring an ihrer rechten Hand oder in der Jackentasche die Schlüssel zu einer Wohnung, die sie mit einer Frau teilten. Warum versuche ich mir also einzureden, dass auch für mich gerade etwas ganz Neues passiert? Ich misstraue mir, wenn ich romantisch werde. Aber mir gefällt, wie Simon mir seine Wahrheiten in einem heiteren und fast beiläufigen Tonfall mitteilt, statt sie mit bedeutungsschwerem Klang zu untermalen. Und ja, ich fühle mich geschmeichelt. So sehr, dass ich die Frage, die noch gestellt werden muss, auf einen späteren Zeitpunkt verschiebe, damit ich mich noch ein Weilchen länger im Licht des Auserwähltseins sonnen kann. Ich bin sein erster Ehebruch. Allein aus diesem Grund wird er mich nie vergessen.
Simon stellt sein Glas ab und kriecht wieder zu mir unter die Decke. Ich lege meinen Kopf an seine Brust und horche auf seinen Herzschlag. Er streicht mit den Fingern meine Haare behutsam zur Seite, bis mein anderes Ohr frei liegt. »Was wartet morgen auf dich, Mila?« Seine Stimme kommt von weit her.
Ich könnte antworten: eine kalte, unaufgeräumte Wohnung mit einem verreckten Strauß roter Rosen auf dem Esstisch. Oder: ein Haufen Gespenster auf meiner Bettkante, die geduldig auf meine Rückkehr warten. Geschätzte fünf Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter, alle von derselben Stimme. Eine gestauchte Zeitung von Samstag und darüber die von Montag, mit Unerbittlichkeit in den Briefkasten gerammt. Nichts davon wäre gelogen.
»Ein Termin mit meiner Therapeutin um zwölf«, sage ich, und bei jedem m berühren meine Lippen die Haare auf Simons Brust. Es kitzelt. »Sie kennt Gerald. Sie hatte mir dieses Seminar ausdrücklich ans Herz gelegt.«
Ans Herz gelegt, was für ein schöner Ausdruck. Ich habe mich Simon ans Herz gelegt. Mein Gesicht hebt und senkt sich mit jedem seiner Atemzüge. Ich kann alles Mögliche in seinem Körper hören, Rauschen, Gurgeln, Knacken, aber nichts, was wie ein Herzschlag klingt.
»Heißt das –«, beginnt Simon, aber ich unterbreche ihn und bitte um Ruhe, ich könne sonst sein Herz nicht schlagen hören. Er schweigt, ich lausche, und da ist er, ganz ruhig und fest und regelmäßig. Wie schnell das geht, einem anderen Körper so nahe zu kommen. Wie sich Scheu in Neugier, Neugier in Großzügigkeit und Großzügigkeit in Zärtlichkeit für alles verwandelt, das fremd und ganz anders ist als erwartet. Ich tauche ein in die Herznote von Simons Haut, die mich an Gartenerde und Feuerholz und irgendetwas aus dem Sommer 1978 erinnert. Simon setzt erneut an, etwas zu sagen, aber ich will jetzt nichts hören, ich muss erst seinen Geruch auswendig lernen und danach alle seine Oberflächen. Ich habe noch einiges vor. Kleine Gipfelkreuze will ich errichten, wenn ich irgendwo oben angekommen bin, interessante Vertiefungen mit meiner Zunge vermessen, und an einigen Stellen werde ich meine Zelte aufschlagen und vor Ort weiterforschen. Hier zum Beispiel, im Dickicht
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