Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Hand in Hand aus dem Foyer ins Freie.
Der Nebel hat sich zurückgezogen. Der Himmel sieht grau und unentschlossen aus, und unsere Straße, die wir jetzt zum siebenten Mal entlanglaufen, wirkt bei Tageslicht ebenso nichtssagend wie gestern in der Dunkelheit. Nicht mal Verliebte könnten sich so eine Stadt schönreden. Simon läuft mit leuchtenden Augen neben mir her und phantasiert von einem Siedler, der um 1237 herum in den feuchten Auen, ungefähr an dieser Stelle – er deutet auf einen Vorgarten mit bemooster Vogeltränke –, gelegen und von einem Mann und einer Frau geträumt hätte, die sich dereinst hier begegnen sollten, und jetzt, wo sich die Vision erfüllt habe, könne man nach unserem Abgang am Mittwoch die ganze Stadt getrost wieder abreißen. Ich bin sehr angetan von der Vorstellung, zusammen mit Simon in einer Vision vorzukommen.
»Nein, im Ernst«, sagt Simon. »Diese Stadt kann gar nicht anders. Es gibt sie nur unseretwegen. Wir sollten dankbar sein.«
»Ich bin irrsinnig dankbar«, sage ich und meine es auch so.
Das Café, von dem der Mann an der Rezeption gesprochen hat, finden wir ohne Mühe. Es hat montags geschlossen. Wir sehen uns wortlos an und steuern auf die Filiale des Kaffeeimperiums auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu, entschlossen, dem lokalen Mittelstand den Rest zu geben. Nur niederlassen wollen wir uns dort nicht. Mit klebrigem Backwerk und Kaffeebechern aus Pappe laufen wir weiter durch die Altstadt und sehen genauso albern aus wie alle anderen, die ihre Mahlzeiten in der Fußgängerzone herumtragen. Simon macht mich auf ein Schaufenster aufmerksam, das mit kopflosen Torsos in pastellfarbener Nachtwäsche bestückt ist. Ich schüttle den Kopf und gestehe ihm, dass ich zu den Frauen gehöre, die gern alles Mögliche zusammen mit Männern einkaufen würden, sogar Kettensägen oder Gartengrills – »und Rasiermesser«, ergänzt Simon –, aber niemals, wirklich niemals Kleidung für mich. Simon nickt und lässt sich nicht anmerken, ob er enttäuscht oder erleichtert ist.
Wir erreichen den Marktplatz, auf dem bis gestern noch »Das 10. Große Kürbisfest« gefeiert wurde, wie uns ein liebevoll bemaltes Transparent verrät, das sie quer über die Straße gespannt haben. Jetzt werden die Stände zerlegt und abtransportiert. Mitten auf dem Platz steht ein verlassenes kleines Riesenrad, eigentlich eher ein Zwergenrad mit acht Gondeln, die wie ausgehöhlte Kürbisse aussehen. Ein tobendes Kleinkind liegt auf dem Kopfsteinpflaster und schreit ununterbrochen: »Kürbis fahren!« Seine Eltern stehen daneben, ihre anfängliche Amüsiertheit verwandelt sich langsam in milde Verzweiflung, als das Geschrei immer weiter anschwillt und das Kind sich weder beruhigen noch ablenken lässt. Der Mann, der sich eben noch über das Kind gebeugt hat, zuckt mit den Achseln und legt den Arm um seine Frau. Die Frau ist schwanger. Ich sehe, wie Simon das Paar beobachtet.
»Ich hab mich oft gefragt, wie die Leute das aushalten«, sage ich.
»Gleichmut«, sagt Simon. »In dieser Phase braucht man besonders viel davon. Bei unserem Sohn lief es –«
»Komm, bringen wir’s hinter uns«, sage ich.
5.
Simon ist seit zwölf Jahren mit Connie verheiratet. Als er sie kennenlernte, arbeitete sie in einer Fachbuchhandlung in der Nähe seiner Uni, und sie hatten über viele Jahre hinweg eine turbulente, aber eher lockere Daueraffäre, was vor allem daran lag, dass Simon sich die meiste Zeit im Ausland aufhielt (präziser drückt er sich da nicht aus). Wer von ihnen auf die Idee mit dem Heiraten kam, weiß Simon nicht mehr, aber er ist heute genauso überzeugt wie damals, dass es eine gute Idee war: Verbindlichkeit, echtes Einlassen, sesshaft werden. Simon war damals sechunddreißig und Connie zweiundvierzig. Sie hätten gern Kinder gehabt, aber Connie war überzeugt, keine kriegen zu können, und dementsprechend groß war die Überraschung, als sie mit 45 schwanger wurde. Simon war begeistert. Connie hatte anfangs Bedenken. Beide waren sicher, dass dies ihre letzte und einzige Chance war, zusammen Eltern zu werden. Connies Schwangerschaft verlief ohne größere Komplikationen, und als er Lukas zum ersten Mal in den Armen hielt, war Simon überzeugt, dass es die beste Entscheidung seines Lebens gewesen war. Er hatte gerade einen neuen Job angefangen, und es dauerte ein halbes Jahr, bis er mitkriegte, dass mit Connie etwas nicht in Ordnung war. Sie zog sich immer mehr in sich selbst zurück. Wenn sie mit
Weitere Kostenlose Bücher