Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
präsentiert hätte? Ich stelle mir vor, wie Simon zu mir sagt, Mila, ich bin verheiratet, aber seit ich dir begegnet bin, geht es mir zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gut. Oh, das klingt ziemlich großartig. Mehr davon. Mila, ich bin in dich verliebt. Ja, Simon, ich auch. (Halt, hier keine Antworten.) Das ist der beste Sex, den ich in meinem ganzen Leben gehabt habe, Mila. Jetzt wird es allmählich unrealistisch. Aber ich kann nicht aufhören und lasse Simon schnell noch sagen: Komm, wir hauen ab und beginnen zusammen ein neues Leben, und mit dieser Lachnummer komme ich endlich wieder in der Gegenwart an. Die Gegenwart ist der Eingangsbereich einer Modekettenfiliale.
Andererseits, denke ich, und genau bei Andererseits passiere ich den obligatorischen Türsteher mit Headset, und als ich versuche, den Gedanken fortzusetzen, fällt mein Blick auf dieses rote Kleid, und ich vergesse, was auf Andererseits folgen sollte. Ich mache mir nichts aus Kleidern. Ich habe keins mehr getragen, seit meine Mutter aufgehört hat, sie um mich herumzunähen. Für Irene gehört das zu den vielen Verhaltensmustern, die ich als Abwehr gegen Alicja entwickelt habe, während ich nicht einsehe, dass es etwas mit meiner Mutter zu tun haben soll, wenn ich in einem Kleid nicht mehr ich selbst bin. Abgesehen davon fände Irene es sicher viel interessanter, dass ich gerade wie ferngesteuert auf den Kleiderständer zugehe, um den Stoff eines billigen, ärmellosen Kleids zu berühren, dessen Machart und Verarbeitung meine Mutter in Tränen hätten ausbrechen lassen. Er fühlt sich viel besser an, als ich befürchtet habe. Ich nehme den Bügel in die Hand und drehe und wende das Kleid, fahre mit dem Finger die Seitennähte entlang, zerre am Reißverschluss am Rücken, der sich wie erwartet nicht besonders geschmeidig verhält, sehe nach der Größe und treffe eine Entscheidung.
Ich habe immer noch dieses irre Leuchten von heute Nacht in den Augen, als ich mich in der Kabine vor dem Spiegel ausziehe und auf die Desillusionierung vorbereite, die wahrscheinlich gleich eintreten wird. Eigentlich will ich erst richtig hingucken, wenn ich den Reißverschluss besiegt habe, aber das wird eine längere Sache, also wage ich einen schnellen Vorschaublick in den Spiegel und stelle fest, dass ich mich zumindest noch wiedererkenne. Und ja, es passt. Ich streiche ein paar Falten über dem Bauch glatt und recke den Hals, ich drehe mich nach links und nach rechts und finde nichts, wofür ich mich schämen müsste. Mit aller gebotenen Vorsicht würde ich sagen, dass mir sogar die Farbe steht. Nicht zum ersten Mal in meinem Leben wünsche ich mir eine Freundin; in diesem Moment hätte ich gern eine, die ihren Kopf durch den Vorhang steckt und mich vielleicht vor einem Riesenfehler bewahrt. Früher gab es wenigstens noch aufdringliche Verkäuferinnen, die bei so was keine Zurückhaltung kannten. Heute bleibt mir nichts anderes übrig, als mir aktiv eine Zweitmeinung einzuholen. Eine 39-Euro-Fehlinvestition wäre nicht das Problem. Mich vor Simon als kleines rotes Modeopfer zu präsentieren schon.
Es geht einfacher, als ich gedacht habe. Als ich den Vorhang zur Seite reiße, steht direkt vor mir ein fassungsloser Jüngling türkischer Abstammung, leicht übergewichtig und fest überzeugt, seine Freundin wäre da drin gewesen, wie er mit rotem Kopf beteuert. Ich nehme meinen Mut zusammen und frage ihn, was er von dem Kleid hält, wo er doch schon mal hier ist, und er reißt die Augen auf und geht einen Schritt zurück und sagt »krass«, und im selben Moment kommt seine Freundin aus der Nachbarkabine, wohl beunruhigt von unserer Unterhaltung, und sie meint auch »krass«, und ich denke, das sollte eigentlich genügen. Dann fällt mir noch etwas ein, ich sage »Wartet mal« und gehe zurück in die Kabine und steige in meine Stiefel, das einzige Paar Schuhe, das mich außer Joggingschuhen auf dieser Reise begleitet, und dann stelle ich mich vor die beiden hin und frage »Geht das?«, wahrscheinlich mit flehender Stimme, weil ich genau weiß, dass mir zu einem Schuhkauf die Nerven fehlen würden. Das Mädchen verzieht die Mundwinkel, aber der Junge sagt, das sei voll okay, und das Mädchen entspannt sich wieder und plädiert für die Anschaffung einer Strumpfhose, wenn es schon Stiefel sein müssten. Ich bedanke mich und nehme auf dem Weg zur Kasse noch zwei T-Shirts und ein wenig Unterwäsche mit, alles von tarnfarbener Schlichtheit und nach Augenmaß gewählt,
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