Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
und ziehe die graue, verwaschene Kapuzenjacke über und sage lässig »Ich muss leider ein wenig improvisieren heute Abend«, und Simon lacht zustimmend, und ich finde mich so unbeschreiblich schön in meiner neu erfundenen Souveränität. Andere Frauen täuschen Orgasmen vor, ich Erfahrung im Tragen von Kleidern. Und das Gute daran ist, dass sich mein Fake nach einer Weile sogar selbst vernichtet.
Draußen vor dem Aufzug wartet eine weißhaarige Frau in robuster Sportkleidung. Ich denke zuerst, dass das Helga sein könnte, Helga mit einer guten halben Stunde Verspätung im Nacken, aber während der Fahrt nach unten wirkt sie so zufrieden und in sich ruhend, dass jegliches Helgasein ausgeschlossen scheint. Sie wünscht uns einen schönen Abend und marschiert hinaus in die Dunkelheit, ohne sich umzusehen.
Das Restaurant befindet sich im Wintergarten, und von dem guten Dutzend eingedeckter Tische sind nur drei besetzt. Trotzdem gebärdet sich der Kellner, als wäre unsere Unterbringung logistisch kaum zu bewältigen, er seufzt und sieht sich ratlos um und weist uns dann einen Platz neben einem üppigen Gewächs zu, ein Gummibaum mit Blättern so groß wie Wärmflaschen. Simon ist erleichtert, als er auf der Speisekarte Gemüselasagne entdeckt, und ich will heute alles, was Simon auch hat, also bestellen wir zweimal das vegetarische Gericht mit Salat und einer Flasche Weißwein. Es ist warm genug, dass ich meine Kapuzenjacke ausziehen und Simon meine nackten Arme und mein tiefes Dekolleté präsentieren kann. Ich fühle mich immer noch großartig. Simon starrt gebannt in meinen Ausschnitt.
»Kassiopeia«, sagt er. »Pegasus. Und hier«, er langt über den Tisch und tippt auf eine Stelle an meinem linken Oberarm, »hier ist das Kreuz des Südens.«
»Ich kann nur Orion, du Angeber«, sage ich. »Und außerdem sind das keine Sterne. Es ist ein Code. Wenn du die Punkte in der richtigen Reihenfolge miteinander verbindest, hast du die Antwort auf das größte Geheimnis des Universums.«
»Ich hatte sogar mal ein richtiges Teleskop«, sagt Simon und versucht, gekränkt auszusehen. Er wartet, bis der Kellner die Flasche geöffnet und ihm sein Glas zum Probieren gereicht hat, dann trinkt er und nickt. »Es war ein Bausatz. Die Teile waren nummeriert. Wenn deine Punkte auch nummeriert sind, finde ich die Lösung sofort.«
»Ich hab versucht, sie wegzuradieren«, sage ich. Wir nehmen unsere Weingläser und stoßen an. »Ich habe meinen ersten Schulradiergummi benutzt, um meine Sommersprossen im Gesicht damit zu bearbeiten. Nicht mit der roten, sondern mit der blauen Seite. Hey, ich war hart im Nehmen. Alle dachten, ich hätte eine schwere Allergie, als sie mich sahen.«
»Bist du wegen deiner Sommersprossen gehänselt worden?«
»Nein, nie. Ich wollte nur nicht aussehen wie meine Mutter, das war alles.« Ich finde, ich schulde Simon diese Steilvorlage, nachdem er mich seit heute Morgen nicht mehr nach meiner Mutter gefragt hat, aber er sieht mich nur an, als versuche er sich vorzustellen, wie ich mit wegradierten Sommersprossen aussehen würde. Ich spüre, dass mir der rechte Träger langsam von der Schulter rutscht, mit so was muss man wohl rechnen, wenn man keine Haute Couture trägt. Ich schiebe ihn hoch, aber als ich nach dem Besteck für meinen Salat greife, ist er sofort wieder unten. Gut, dann eben nicht.
»Deine Mutter«, sagt Simon. »Du wolltest gerade anfangen, mir von deiner Mutter zu erzählen. Sie hatte auch Sommersprossen.«
»Und rotblonde Ringellocken und himmelblaue Augen.« Es geht nicht anders, ich muss wirklich ganz vorn anfangen. »Sie kam 1940 im besetzten Polen zur Welt. Hast du mal was vom Germanisierungsprogramm der Nazis gehört? Die suchten in den annektierten Gebieten ständig nach wertvollem Rasseblut. Sie casteten heimlich Nachwuchs fürs Deutsche Reich, und Alicja passte hervorragend in ihr Konzept. Sie war gerade zwei Jahre alt geworden, da wurde sie nach Deutschland verschleppt und in eine Alice verwandelt. Ging ganz einfach.«
»Ich habe mal was darüber gelesen, ja. Die Nazis haben Kinder geklaut und nach Deutschland gebracht. Aber dass sie das auch in Polen gemacht haben, wusste ich nicht.«
»Wenn’s eng wird, tun es zur Not auch Slawenkinder. Das meintest du doch, oder? Sie haben sich Tausende von ihnen geholt, damit sie später mal deutscher Soldat oder deutsche Mutter werden können. Alicja hatte Glück, sie kam nicht in eins dieser SS-Heime, sondern gleich zu Pflegeeltern.
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