Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
Finger auf die Lippen und sagt Pst, und seine Augen sind so nah vor mir, dass ich das zarte kupferfarbene Gespinst seiner Iris erkennen kann. Unsere Bäuche berühren sich bei jedem Atemzug. Wir halten uns, stützen einander, verbunden und umschlungen und aufrecht wie König und Königin.
Und plötzlich ist sie wieder da, die Stille, diese weite, gute, großzügige Stille, die alles sein lässt, das Wollen, das Zweifeln, das Nicht-Wissen, und wir lassen uns in sie hineinfallen und lauschen, und irgendwo in dieser Stille meine ich zu hören, wie die Grüne Tara leise lacht.
6.
Wenn mich mein Zeitgefühl nicht täuscht, fallen wir ungefähr eine halbe Stunde später um. Wir kippen einfach zur Seite wie eine Kamasutra-Skulptur und verwandeln uns auf dem Boden zurück in einen Mann und eine Frau, die völlig erledigt nebeneinander auf dem Rücken liegen. Simon stöhnt leise, als er seine Beine ausstreckt, und ich werte es als eine Äußerung des reinen Glücks. Ich suche nach seiner Hand. Trennung ist jetzt gut, aber ganz ohne Brücke möchte ich nicht sein.
Lange Zeit sagen wir nichts. Dann wendet mir Simon sein Gesicht zu und fragt, ob mir kalt wäre.
»Nein«, sage ich. »Dir?«
»Nein«, sagt Simon.
»Ich möchte was sagen.«
»Sag’s.«
»Und du sollst nicht darauf antworten. Jedenfalls nicht gleich.«
»Gut.«
»Ich weiß, dass unsere Geschichte nicht weitergeht. Und das ist in Ordnung so. Fang also gar nicht erst an, dir Sorgen um mich zu machen. Es läuft alles ein bisschen anders, als ich gedacht habe, und ich bin längst nicht so cool, wie ich gern wäre, aber ich krieg das sehr gut hin.«
»Und darauf soll ich jetzt nicht antworten.«
»Nein.«
»Aber ich kann dich was fragen, oder?«
»Sicher. Frag.«
»Wärst du jetzt wirklich lieber cool?«
»Nein. Wäre ich nicht. Ich rede Schwachsinn.«
»Ich bin beruhigt.«
»Aber das andere war kein Schwachsinn.«
»Gut, dann möchte ich jetzt auch was sagen.«
»Aber nicht antworten.«
»Nein, keine Angst. Also, als ich vorhin hier allein saß und auf dich gewartet habe, da ging’s mir nicht besonders gut. Ich hab mich gefühlt wie ein Idiot, der längst den Überblick verloren hat, aber immer noch glaubt, er hätte alles im Griff. Außer deiner Legnica-Geschichte weiß ich immer noch genauso wenig von dir wie gestern Abend. Aber du gehst mir so irrsinnig nah. Das wollte ich dir sagen.«
»Ja«, sage ich, und »Danke«, und ich verpasse erneut die Gelegenheit, Liebe in einem Satz von mir unterzubringen.
Es ist längst dunkel geworden. Wir haben kein Licht im Zimmer angemacht. Jemand geht draußen den Gang entlang und ruft, als er etwa auf der Höhe unserer Tür ist: »Helga? Ich warte unten!« Seine Schritte entfernen sich. Ich stelle mir Helga im Nebenzimmer vor, wie sie den Reißverschluss von ihrem neuen Ausgehkleid nicht zubekommt. Und ich merke, dass ich ernsthaft Hunger kriege.
»Wir sollten was essen, wir Idioten.«
Simon rutscht zu mir und küsst meinen Bauch. Dann sagt er: »Ich habe keine Ahnung, was uns da erwartet, aber wir könnten nach unten ins Restaurant gehen.«
»Das machen wir«, sage ich.
Zwanzig Minuten später kommen mir vor dem Badezimmerspiegel Zweifel, ob ich heute Abend wirklich unbedingt ein Muster durchbrechen möchte, das mir so viele Jahre zuverlässig gedient hat. Meine Sorge ist nicht, dass ich in einem Kleid unbeholfen durch die Gegend stolpern könnte, denn davor werden mich meine Stiefel bewahren, die treuen Freunde meines Musters. Meine Sorge ist, dass ich mich ein wenig übernommen habe, weil ich Herzensangelegenheiten besser in Jeans und Pullover handhaben kann und bei all der Wirrnis in meinem Kopf nicht auch noch ständig »Oh Gott, ich habe ein Kleid an« denken möchte. Andererseits. Dieses Rot. Und der Reißverschluss schnurrt wie ein Kätzchen. Was für lächerliche Probleme ich habe.
Simon tippt etwas in seinen Organizer und wendet mir den Rücken zu, als ich aus dem Bad komme.
»Helga ist so weit«, sage ich.
Simon dreht sich um und sieht mich mitten im Zimmer stehen und sagt erfreut: »Oh, das ist klasse, Mila«, und ich sehe ihm an, dass er es auch so meint. Trotzdem bin ich im ersten Moment ein bisschen enttäuscht, die Chöre und Fanfaren sind ausgeblieben, aber dann wird mir klar, dass Simon gar nicht wissen kann, dass hier gerade ein Vierteljahrhundert Verhaltensmuster den Bach runtergeht, und plötzlich fühle ich mich frei und unbeschwert. Ich steige selbstbewusst in meine Stiefel
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