Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
eine Beziehung, die auf den Trümmern –«
»Ihre Skrupel in allen Ehren, Mila, aber Liebe gedeiht auf jedem Misthaufen.«
Sie muss das plötzliche Interesse in meinem Gesicht gelesen haben, denn sie fügt hinzu: »Ob eine Liebe sich erfüllt hat, lässt sich nicht in Tagen oder Wochen oder Jahren bemessen. Manche sind zum Leben da. Andere zum Feiern. Oder zum Lernen. Meistens weiß man es am Anfang nicht. Eine unerfüllte Liebe verlangt nach Erfüllung, ja. Aber Sie können auch jede erfüllte Liebe in eine unerfüllte verwandeln, indem Sie ihr unnötigerweise hinterherlaufen.«
»Super. Ich kann also gar nichts verkehrt machen. Es ist entweder so oder so.«
»Ist das Leben nicht wunderbar?« Irenes Blick ist frei von jeder Ironie. »Wenn Sie unbedingt einen Rat von mir wollen, Mila: Hören Sie nicht auf zu lieben. Aber lassen Sie alles andere erst mal sein.«
Wir befinden uns thematisch in unmittelbarer Nähe zu Lydias Yogaprospekt mit seiner Inschrift, und ich überlege gerade, ob ich Irene erzählen soll, was Gerald zu mir übers Wollen gesagt hat, aber irgendwie fehlt mir plötzlich die Kraft für weitere Exegesen. Stattdessen berichte ich vom unerwarteten Auftritt meiner toten Eltern bei der Meditation, als ich die Königskinder aufsagte und mich eigentlich eher nach Gleichmut sehnte statt nach ihnen. An Neuigkeiten über meine Eltern ist Irene immer interessiert, schließlich sind sie der Grund, weshalb ich mich vor zwei Jahren zum ersten Mal auf ihr rotes Sofa gesetzt habe, mit unverstelltem Blick auf El Faruk erschoss auch den letzten Beduinen, ohne die Kopfhörer abzusetzen , nachdem ich zuvor eine stattliche Anzahl von Irenes Kollegen verschlissen hatte, vier, um genauer zu sein.
»Sie fangen langsam an, die Trauer um Ihre Eltern endlich auszudrücken, statt sie nur in Ihrem Gesicht herumzutragen«, sagt Irene, und ich widerspreche ihr nicht wie sonst, wenn es um das Benennen meiner Gefühle für meine Eltern geht. Soll sie ruhig Trauer dazu sagen. Für mich heißt es immer noch DAS GROSSE GARNICHTS.
»Ich hab mir sogar ein Kleid gekauft«, sage ich und präsentiere meinen Trumpf wie ein prahlendes kleines Schulmädchen. Ich kann es einfach nicht lassen. Wenigstens einmal will ich noch versuchen, Irene zu zeigen, welche sagenhaften Transformationen Simon bei mir bewirkt hat. Guck mal, Irene! Simon hat mir auch bei der Bewältigung meiner Vergangenheit geholfen! Ich habe ihm Geschichten aus meiner Kindheit erzählt! Wir hatten nicht nur den besten Sex aller Zeiten, ich war sogar la-haut! Frag mich nach dem roten Kleid, Irene, dann werde ich dir alles erzählen, alles, nur damit du am Ende sagst, ja Mila, jetzt sehe ich es auch, Sie und Simon sind füreinander geschaffen, so etwas Großartiges passiert einem nur einmal im Leben, und da muss man dranbleiben, egal was es kostet, Carpe diem, Amen.
Irene quittiert meine Bemerkung über das Kleid mit einem kurzen Anheben der rechten Augenbraue. Bleibt ihre Braue ein paar Sekunden lang oben, heißt das normalerweise: befremdlich, aber hochinteressant. Bitte mehr Kontext. Geht sie sofort wieder runter: Schön für Sie, aber ich kann dieser Information weder persönlich noch therapeutisch etwas abgewinnen. Diesmal scheint mir, als würde Irene danach noch kurz beide Augen schließen, wie um die Belanglosigkeit meiner Aussage noch einmal extra zu betonen. Vielleicht redet sie nicht gern über Mode. Vielleicht hat sie meine Absicht durchschaut.
Sie wendet sich zur Seite und langt nach dem weißen Porzellanschälchen, das auf dem Beistelltisch bereitsteht. Im Schälchen liegen ein Feuerzeug und eine rosa Packung mit indischen Zigaretten, Mangalore Ganesh Beedies, ein süßlich riechendes Höllenkraut, das wahrscheinlich von Kinderhänden am Rande von Mangalores Müllhalden zusammengerollt wurde – »Ah ja?« war Irenes einzige Antwort auf meine Vermutung gewesen – und das zentraler Gegenstand eines Rituals ist, mit dem Irene die letzten zehn Minuten jeder Sitzung abschließt. Wer bei Irene eine Therapie machen will, muss damit einverstanden sein, dass sie am Schluss eine raucht. Sie, wohlgemerkt, nicht ihre Klienten. Ich vermute mal, sie rechnet nie mit einer Krankenkasse ab. Und tatsächlich würde mir ohne dieses Ritual etwas fehlen. Es ist eine klare Ansage: Du hast noch zehn Minuten für heute, also mach was draus. Mir gefällt das. Es stresst mich nicht. In den letzten zehn Minuten muss ich nicht mehr gut sein. Manchmal erzähle ich einfach, was mir
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