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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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als Erstes in den Sinn kommt. Manchmal sitze ich nur da und betrachte Irene beim Rauchen, bis sie die Porzellanschale mit dem Rauchzubehör schwungvoll auf der Tischplatte abstellt und sagt: »Das war’s dann für heute, Mila.«
    Heute sieht mich Irene über grauviolette Schwaden hinweg an, als sei sie mir wieder wohlgesinnt. Heute übernimmt sie die Gestaltung der letzten Runde. »Was hat Ihnen am Schweigeseminar gutgetan? Was hat Ihnen daran gefallen, Mila?«
    Ich überlege nicht lange. »Dass es im Grunde genommen so leicht ist und so unspektakulär, die Dinge wahrzunehmen, die man sonst übersehen oder überhört hätte. Man setzt sich einfach hin und hält die Klappe und bewegt sich nicht, selbst wenn es wehtut.«
    »Es gibt Menschen, die würden so etwas Folter oder zumindest Selbstkasteiung nennen.«
    »Kann ich ihnen nicht verübeln. Ich wäre auch ab und zu gern rausgelaufen.«
    »Was hat Sie veranlasst zu bleiben?«
    »Das Gefühl, dass es sich lohnt. Dass es zu mehr gut ist, als ich mir gerade mit meinen abgestorbenen Füßen vorstellen kann. Ich mochte auch die Gutenachtgeschichten, die Gerald uns abends erzählt hat. Über den Geist und den Gleichmut. Und über das Leiden. Und ich mochte sogar das Singen. Kennen Sie das Mantra der Grünen Tara?«
    »Was haben Sie über das Leiden erfahren?«
    »Dass es Leid gibt, das im Leben unvermeidlich ist, und Leid, das wir selbst verursachen, indem wir rumheulen, weil wir nicht kriegen, was wir wollen. Und dass die erste Sorte Leid im Gegensatz zur zweiten verschwindend gering ist.«
    »Interessant, oder?«
    »Hochinteressant. Ich glaube aber, dass es neben dem unvermeidbaren und dem vermeidbaren noch eine dritte Sorte Leid gibt, die Buddha übersehen hat. Oder er hat’s keinem erzählt, weil es die Sache unnötig kompliziert gemacht hätte.«
    »Jetzt bin ich aber gespannt.«
    »Das unverzichtbare Leid. Das Leid der gebrochenen Herzen. Es gehört zu der Sorte Leid, die man tatsächlich vermeiden kann, indem man entweder niemanden liebt oder immer nur die richtigen Leute, also passt es nicht in die erste Kategorie. Andererseits ist es genau die Art von Leid, die das Schönste in Menschen hervorbringen kann. Und damit ist es unverzichtbar. Die besten Gedichte wurden von Menschen mit gebrochenem Herzen geschrieben. Sie haben die schönste Musik komponiert und die größten Heldentaten aller Zeiten vollbracht. Was wäre aus der Menschheit geworden, wenn alle Buddhisten wären? Leere Bücherregale, leere Kinos. Nirgendwo Leidenschaft. Stattdessen überall fröhliches Loslassen.«
    »Ich glaube, ich sollte Gerald zu unserer nächsten Sitzung einladen«, sagt Irene und schnippt die Asche in das Porzellanschälchen.
    Ich sehe ihren Rauchkringeln hinterher, und dann sage ich: »Im Ernst, ich fand das Wochenende gut. Ich kapier schon, was gemeint ist. Und die Stille, die wird mir ab jetzt immer wichtig sein. Aber ich will mir nicht mein ganzes Leben von jemandem erklären lassen, verstehen Sie?«
    »Aber sind Sie nicht ursprünglich genau deswegen hierhergekommen?«, fragt Irene und bringt ihre Beedie mit einer entschlossenen Bewegung zum Erlöschen. »Lassen wir das mal so stehen. Das war’s für heute, Mila.«
    Es ist kurz vor sieben, und ich nehme an, ich war ihre letzte Klientin in dieser Woche. Draußen im Flur suche ich lange und umständlich nach meiner Mütze, bis ich sie tief unten im Jackenärmel finde. Irene hat in der Zwischenzeit die Fenster im Arbeitszimmer aufgerissen und steht jetzt mit verschränkten Armen im Türrahmen.
    »Dann bis in zwei Wochen«, sage ich.
    »Bis in zwei Wochen. Wenn was ist, rufen Sie mich an.«
    »Mach ich. Danke.« Für Irenes Verhältnisse war das ein extrem besorgter Satz, aber wahrscheinlich geht es ihr eher um das Einhalten des nächsten Termins. Wir geben uns zum Abschied die Hand.
    »Passen Sie gut auf sich auf. Und überlegen Sie sich das mit den Heldentaten noch mal. Komponieren Sie lieber ein Lied.«
    »Wie meinen Sie das?«
    »Weil es eben nicht die größten Heldentaten aller Zeiten sind, die mit einem gebrochenen Herzen begangen werden. In der Regel sind es die dümmsten.«
    Sie hat die Schwachstelle in meiner Theorie entdeckt, ich hätte es wissen müssen. »Aber Dichten geht auch, oder? Ich kann keine Noten.«
    Als ich die Klinke der Eingangstür herunterdrücke, fällt mir die Frage ein, die ich Irene schon die ganze Zeit stellen wollte und dann doch wieder vergessen habe. Der Luftzug aus dem Treppenhaus lässt die

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