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Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)

Titel: Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susann Pásztor
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heftet sich an meinen rechten Knöchel, und als ich sie mit dem linken Fuß abstreifen will, komme ich ins Stolpern. Ich bleibe stehen, bücke mich. Der Wind zerrt an meinen Hosenbeinen, fährt hinein und bläht sie auf wie zwei pralle Würste. Ich laufe weiter.
    Vor mir liegen noch ein paar Baumreihen, dann kommt die große Wiese, trotz eigens aufgestellter Sammelbehälter wahrscheinlich das verkackteste Stück Natur in meiner Stadt, an warmen Sommerabenden von Großfamilien mit ihren Gartengrills bevölkert und im Herbst die Spielwiese der Aeronauten. Ich kann immer noch nicht sehen, wer der Pilot am anderen Ende der Leine ist, ob er ein Kind ist oder ein Erwachsener, ob er sich gegen den Boden stemmt und der gewaltigen Zugkraft trotzt oder schon längst abgehoben hat, weil er nicht loslassen kann, mit den Füßen Scharten in die Grasnarbe pflügt und dann auf, auf und davon. Durch die Luft so hoch, so weit, niemand hört ihn, wenn er schreit. Oben im Himmel sackt der grüne Deltadrachen ein paar Meter nach unten, legt sich zur Seite und dreht jetzt Kreise, keine Achten mehr, immer schneller werden seine Runden und immer erregter, und dann, fast wie eine Erlösung: der Absturz. Die graublauen Sturmwolken sind wieder unter sich. Eine Krähe fliegt durchs Bild. Ich laufe weiter.
    Die Wiese ist menschenleer, als ich sie erreiche. Ich verlasse den Weg und laufe bis zur Mitte, nichts, keine Spuren, kein Drachen, nur Windböen, die mich auf dem offenen Gelände anfallen wie eine Herde schlecht gelaunter Tiere. Ich sollte umkehren. Ich sollte zurück nach Hause laufen, bevor es völlig dunkel wird. Ich bleibe stehen und lasse mich vom Sturm beatmen, mitten in meinen aufgerissenen Mund hinein, und wenn ich den Kopf zur Seite wende, reißt er mir die Luft wieder heraus. Die Straßenlaternen weit hinten am Ende des Parks flackern hinter wogenden Bäumen. Durch die Luft so hoch, so weit. Woher kenne ich das? Ein armlanger Ast fegt über die Wiese und trifft natürlich mich, die einzige Landmarke weit und breit, ich greife mir den Ast und schleudere ihn dem Sturm hinterher, und dann schreie ich, schreie, wie nur eine Verrückte schreien kann, die Scham fliegt in den Wind, der Anstand, die Rücksicht, und niemand hört mich, nur ich, und ich höre diese Stimme zum ersten Mal in meinem Leben. Ich will nicht loslassen. Festhalten will ich, wiederhaben, noch mal, immer wieder, und alles bricht sich Bahn, der Dreck, die Unvernunft, die mühsam kontrollierte Verzweiflung. Wer sagt das? Wer behauptet, dass es gut ist und richtig, außer einem Haufen glatzköpfiger Mönche?
    Ich schreie eure Stille in Grund und Boden. Ich fauche mit meinem heißen Begehren euren Gleichmut zum Fester hinaus. Ich verhöhne das Werden und Vergehen, ich beschwöre das Bleiben, das Immer-So, ich brülle das Alte Lied, so laut ich kann, so oft ich will, so lange, bis die kleinen glatzköpfigen Mönche auseinanderstieben, mit flatternden roten Kutten und fliegenden Reisschüsseln. Ich schreie, bis mein Hals wund ist und mein Kopf dröhnt, vornübergebeugt, die Hände auf den Oberschenkeln abgestützt, als wollte ich mich übergeben. Am Ende fühlt es sich auch so an. Erst als kein Ton mehr kommt und der Hustenreiz übermächtig wird, überlasse ich dem Sturm das Mikrofon und trete ab von der Bühne.
    Kurz vor dem Eingang des Stadtparks überhole ich zwei Gestalten, die sich gegen den Wind stemmen, die Kapuzen tief in die Stirn gezogen, die eine groß, die andere klein. Aus dem Rucksack der kleinen Gestalt ragt ein langer neongrüner Köcher, und plötzlich weiß ich es wieder, es ist der fliegende Robert mit seinem Regenschirm, dessen Schreien niemand hört, und während ich vergeblich versuche, mich an weitere Zeilen zu erinnern, spüre ich die ersten Regentropfen im Gesicht, kalt und bissig.

2.
    »Was ist denn mit Ihrer Stimme los, Mila?«
    Irene hat mit der Frage gewartet, bis ich Mantel und Schuhe an der Garderobe ausgezogen habe und ihr ins Arbeitszimmer gefolgt bin, zu meinem Stammplatz in der rechten Ecke des kleinen roten Sofas. Sie sitzt wie immer in ihrem antiken Ledersessel schräg gegenüber, einem monströsen Erbstück, auf dem vermutlich Generationen von Großgrundbesitzern nach der Jagd Whisky tranken und die Beine ausstreckten, während Irene ihre grundsätzlich parallel ausrichtet wie in einem Benimmbuch der Fünfzigerjahre.
    »Sie sind die erste Klientin, die ich zu einem Schweigeseminar schicke und die heiser zurückkommt.«
    Irene lacht

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