Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
niemals über ihre eigenen Scherze. Ihre Miene ist genauso ernst und distanziert wie ihre Stimme. Sie wartet auf meine Antwort.
»Ich habe herumgebrüllt. Vorgestern. Am Mittwoch, als der Sturm war. Im Stadtpark.«
»Was war passiert?«
»Eigentlich nichts. Niemand außer mir war dort. Ich wollte wissen, ob ich es kann.«
»Und offenbar konnten Sie es.«
Ich äußere mich nicht weiter dazu, und Irene fragt nicht nach. Ich überlege, worüber ich eigentlich mit ihr reden möchte und wo ich anfangen will. Ich habe keinen Plan. Als sie mir gestern den Termin für heute so prompt gab, als hätte sie ihn schon seit meinem Anruf am Montag für mich reserviert, war ich mir nicht sicher, ob das ein Glücksfall war oder ob es mir den Rest geben würde.
»Also, das Meditationswochenende war sehr gut. Ja. Ich glaube, es hat mir wirklich gutgetan.«
»Das freut mich sehr, Mila.« Irenes Augen sind braun und meisterhaft geschminkt, genau wie ihre Lippen mit den perfekt ausgemalten Amorbögen. Ich bin mindestens zwanzig Jahre jünger als sie, aber neben ihr fühle ich mich wie ein polnischer Bauerntrampel. Irene ist eine Dame. Sie altert mit einer Contenance, die ich am liebsten fotografisch dokumentieren würde, um sie später Schritt für Schritt nachstellen zu können, wenn es bei mir so weit ist. Ich glaube, sie findet Altwerden gut. Ich habe sie nie danach gefragt. Ich weiß nur sehr wenig von Irene, genau genommen nichts.
»Aber eigentlich ist hinterher noch etwas anderes passiert.«
»Erzählen Sie.«
»Ich habe einen Mann kennengelernt. Er war auch auf dem Seminar. Ich habe ihn hinterher ein Stück im Auto mitgenommen, und wir sind irgendwann in seinem Hotelzimmer gelandet. Ich bin bis Mittwoch früh bei ihm geblieben. Es war großartig.«
»Das ist eine sehr ungewöhnliche Fortsetzung für ein Schweigeseminar.«
»Fand ich auch. Aber es war eine würdige Fortsetzung.«
»Sie leuchten ja richtig, wenn Sie das sagen. Geht es Ihnen gut, Mila?«
»Ja«, sage ich. »Nein. Ja. Ich glaube, ich bin in meinem ganzen Leben noch nicht so verliebt gewesen.«
Es war zu erwarten, dass mich Irenes Blick über den Brillenrand nach dieser Trivialität am Rückenpolster des roten Sofas festnagelt. Ich halte ihrem Blick stand, ich, die Göttin der reinen und selbstlosen Liebe, großzügig, erhaben und stolz, so stelle ich mir meinen Gesichtsausdruck vor, den ich Irene gerade präsentiere.
»Wirklich, das stimmt. Ich weiß, wie verrückt sich das anhört. Außerdem ist er verheiratet. Das wusste ich von Anfang an. Ich bin trotzdem so froh, dass wir das gemacht haben. Und das war’s dann auch. Wir haben beschlossen, unsere Affäre nicht fortzusetzen.«
»Ein gemeinsamer Beschluss?«
Ein paar Sätze Auskunft, eine einzige Rückfrage, die beiläufig wie ein rot lackierter Fingernagel mitten ins Schmerzzentrum tippt: Das ist Irene. Ich wende meinen Blick ab und flüchte wie so oft in den letzten zwei Jahren in das große Acrylgemälde, das mir gegenüber an der Wand hängt, eine ockerfarbene Unendlichkeit mit einem winzigen graubraunen Quadrat rechts oben, das verloren an einer schwarzen Linie hängt wie an einer Angelschnur. In beinahe jeder Sitzung bekommt das Bild von mir einen neuen Namen. Als Mutter ihre Alzheimer-Diagnose vergaß ist einer seiner Titel, oder Ein äthiopischer Fahrradkurier hat immer das letzte Wort . Ich liebe dieses Bild, und genau deswegen hängt es auch da, für mich und für alle anderen, die auch auf diesem Sofa sitzen und zwischen gelben und braunen Farbpigmenten und Lasurschichten nach der Antwort suchen, der alles entscheidenden Antwort, der Antwort, die es überflüssig macht, hier noch weiter rumzusitzen und auf die Antwort zu warten. Sie kommt auch heute nicht.
»Sagen wir, ich war damit einverstanden.«
»Sind Sie das denn?«
»Dass er wieder zu seiner Familie zurückkehrt und auch keine Geliebte will? Ich kann ihm da schlecht reinreden, oder?«
»Sind Sie damit einverstanden oder nicht, Mila?«
Ich nenne das Bild heute Simon, ich geh noch mal mit dem Hund raus und sage: »Nein. Bin ich nicht.«
»Ah ja«, sagt Irene.
»Na und?«, sage ich. Wie immer, wenn mir das Bild die Antwort verweigert hat, fange ich an, in Irenes Gesicht nach einer persönlichen Meinung zu suchen, nach einem Hinweis darauf, was sie an meiner Stelle tun würde, ob sie das, was ich sage, toll findet oder schwachsinnig, und wie immer wirft mich ihr unbeeindrucktes Gesicht auf mich selbst zurück, es spiegelt nur
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