Die einen sagen Liebe, die anderen sagen nichts: Roman (German Edition)
ich nicht vergesse, das Zeug später mit nach unten zu nehmen, wenn ich gehe. Alles andere kann warten, bis ich zurückkomme. Ich sehe das Meditationskissen neben meinem Bett und habe dasselbe schlechte Gewissen, das mich früher beim Anblick meiner Kuscheltiere befiel: Ich vernachlässige euch, ich liebe euch nicht genug, ihr seid mir egal. Ich hole das Kissen und lege es mitten in den Raum. Ich gehe noch mal los und suche nach einer Decke, falte sie zu einem akkuraten Quadrat und lege sie unter das Kissen. Dann sehe ich es mir an, aus der Nähe, aus zwei Schritten Entfernung, aus dreien. Ich könnte mich genauso gut jetzt dort hinsetzen und ausprobieren, ob es in meiner Wohnung vielleicht doch noch eine andere Art von Stille gibt als die, vor der ich gerade fliehe. Aber im tiefsten Inneren spekuliere ich klammheimlich auf etwas viel Größeres, auf Erlösung, auf Gnade, auf die Antworten, die mir Irenes Bild nicht verraten wollte, als ich mich auf das Kissen setze und die Augen schließe und merke, dass ich den Atem anhalte, wie lange schon, wie oft?
Einatmen, ausatmen. Sofort tauchen Bilder vor meinem inneren Auge auf, ich winke sie mit Gleichmut durch. Einatmen, ausatmen. Die Silhouetten der Männer vor dem leuchtenden Herbstwald. Einatmen, ausatmen. Der Strom aus Menschen, die immer im Kreis herumgehen. Ich schließe mich ihnen an. Einatmen, ausatmen. Ich schreite die Reihe der Frauen entlang, vorbei an den leeren Plätzen von Namevergessen, den Piercingmädels und den Yogamuttis bis ganz vorn, wo Lydia sonst sitzt. Lydia.
Ich muss noch mal telefonieren. Jetzt, sofort.
5.
Das Einzige, was ich an Helmut spießig fand, als ich ihn kennenlernte, war sein Name, den jede Abkürzung oder Koseform nur noch schlimmer gemacht hätte. Inzwischen ist sein Klang nur noch mit der Person dieses einen Helmuts verknüpft und muss nicht mehr für meine Assoziationen mit Studienräten, Feldwebeln oder Bundeskanzlern herhalten. Und auch nicht mit Zahnärzten, obwohl Helmut einer ist. Allzu viel weiß ich nicht über sein Leben. Begegnet sind wir uns bisher nur dreimal, zuletzt bei seiner Hochzeit mit Marek, und ich fand es sehr eindrucksvoll, mit welcher Gelassenheit er auf dem Standesamt meinem hyperaktiven Bruder den Ring an den Finger steckte, so zärtlich und zugewandt und dabei unglaublich distinguiert. Heute, mehr als ein Jahr danach, ist der Ansatz von Helmuts akkuratem Seitenscheitel ein ganzes Stück weiter an seiner Stirn nach oben gewandert, während mein Bruder sich einen seltsamen Kinnbart zugelegt hat, den er »Goatee« nennt und der ein bisschen wie aufgemalt aussieht. Unverändert geblieben ist ihre heitere, unaufgeregte Art, miteinander umzugehen. Sie haben vor Kurzem ihr neues Stadthaus bezogen, viel Holz, Glas und Beton mit Garten und Dachterrasse, und nun werde ich überall herumgeführt und muss mich kein bisschen verstellen, ich finde es schön bei ihnen, wunderschön, fast könnte ich neidisch werden, weil es so sehr nach einem Zuhause aussieht. Am Ende landen wir in der Küche, wo Marek und ich Helmut bei seinen Kochimprovisationen zuschauen dürfen.
Was auch immer bei den beiden an diesem Samstagabend auf dem Programm gestanden hat, sie haben es mir zu Ehren geopfert, und ich weiß es zu schätzen. Ich revanchiere mich beim Abendessen mit einem ebenso detaillierten wie unterhaltsamen Bericht von meinem Schweigewochenende, das in dieser Version zu einer Art Trainingslager mit durchgeknallten Esoterikern und lustigen Sitzprüfungen wird, und Marek fällt wie erwartet vor Lachen fast vom Stuhl. Meinen kleinen Bruder zum Lachen zu bringen gehört immer noch zu meinen Spezialgebieten. Ich baue noch ein paar extra blöde Teilnehmerfragen in die Schlussrunde mit Gerald ein, aber noch während Marek nach Luft japst und grölt »Leute, was sagt ein buddhistischer Mönch, der ein Sandwich bestellt? Eins mit allem!«, merke ich, dass ich gerade Verrat an etwas begehe, einen ganz und gar überflüssigen Verrat, und ich beende meine Vorstellung mit einem lahmen »Aber insgesamt war es schon eine tolle Erfahrung«, was bei Marek einen weiteren Lachanfall auslöst.
Helmut ist mitten in meiner Erzählung aufgestanden und hat leise begonnen, das Geschirr zurück in die Küche zu tragen, nicht ohne mir vorher zu signalisieren, dass er sehr wohl in der Lage sei, dabei zuzuhören. Jetzt steht er an den Schrank gelehnt, das Geschirrtuch über der Schulter, betrachtet eine Weile seinen Ehemann, der sich immer noch nicht
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